Die in Frankreich geborene Dokumentarfotografin Valérie Leray setzt sich mit Orten der Erinnerung auseinander. Ausgehend von der Lebensgeschichte ihres Großvaters recherchiert sie über die Verfolgung der Sinti und Roma während des Vichy-Regimes.
Wir, Ina Rosenthal und Cornelia Wilß, trafen die in Chartres, Frankreich, geborene freie Dokumentarfotografin Valérie Leray jeweils an unterschiedlichen Orten in Berlin, im Jahr 2015 in der Galerie Kai Dikhas am Moritzplatz, wo die Einzelausstellung „Lieu sans nom – Ort ohne Namen“ gezeigt wurde, und 2018 noch einmal. Beim zweiten Mal fand das Treffen im heutigen Zentrum für künstlerische und kunstgewerbliche Werkstätten, HB 55, statt, das im Jahr 1909 als Margarinewerk Berolina gegründet worden war. Aktuell werden etwa 240 Räume von Künstlern aus verschiedensten Richtungen wie Bildhauerei, Design, Malerei, Fotografie, Mode, Musik und vielen mehr genutzt.
In „Lieu sans nom – Ort ohne Namen“ setzt sich die Künstlerin, wie auch in ihren aktuellen Arbeiten beispielsweise über ein Stasi-Gebäude in Berlin, mit Orten der Erinnerung auseinander. Ausgehend von der Lebensgeschichte ihres Großvaters, der als Manouche während des mit dem Dritten Reich kollaborierenden Vichy-Regimes inhaftiert worden war, begann Leray eine umfangreiche Recherche über die Verfolgung ihrer Minderheit in dieser Zeit. Die verlassenen Orte ehemaliger Internierungslager fand sie über ganz Frankreich verstreut. Die Arbeiten, die 2015 in der Galerie Kai Dikhas gezeigt wurden, sind Teile ihrer Masterarbeit über die Präsenz von Geschichte in der zeitgenössischen Fotografie. Aber wer erzählt warum, wann und wo welche und wessen Geschichte?
Man müsse sich als Fotografin immer die Frage stellen, welcher Kontext sich hinter einem Bild, das vordergründig Realität abbildet, verberge. Im Fokus ihrer Arbeiten steht die Frage. Leray zieht die Betrachter ihrer Werke ganz bewusst in einen Rekonstruktionsprozess mit ein, der aufzeigt, wie sich historisches Gedenken durch das Abbilden verlassener Orte erreichen lässt – auch im Unterschied zu den Bildern, die durch die Massenmedien verbreitet werden. Um nicht falsch verstanden zu werden, betont sie beim Gespräch in ihrem Atelier, dass es ihr nicht um eine Denkmalskultur gehe, die die Orte der Verfolgung bloß markiere. „Dieses Projekt ist so angelegt, als ob ich in ein Museum ginge, an einen Ort, an dem sich Geschichte ereignet hat, und eine Momentaufnahme davon anfertige. Sieht man sich das Foto später an, wird der Ort zu einer Erinnerungsstätte. Die Fotografie ist ein mnemotechnisches Verfahren. Es ist die Kunst des Gedächtnisses. Dies ähnelt der Schreibkunst. Für mich ist es wichtig, wenn ich meine Arbeiten zeige, dass der Rezipient beim Anblick einer Landschaftsaufnahme sich damit auseinandersetzt, ahnt, was dort war. Jedes Individuum muss die Bilder also mit seinem Kenntnisreichtum interpretieren.“
Die beiden Interviews fanden in deutscher und französischer Sprache statt. Gedolmetscht hat Mathias Koch beim Gespräch in der Galerie Dikhas. Beim Gespräch im Atelier in HB55 war die Kuratorin Delphine Marinier anwesend, die das Werk Valérie Lerays gut kennt und unser Gespräch zusammenfassend übersetzt hat. Ihr gilt besonderer Dank.
Das ganze Gespräch bei faustkultur