Die Interviews

Ilona Lagrene

Foto © Alexander Paul Englert
» Die Bürgerrechtsarbeit war der Inhalt unseres Lebens «

Ilona Lagrene wurde 1950 in Heidelberg geboren. Schon als kleines Mädchen war sie mit den Folgen des Manuschengromarepen, wie Roma und Sinti den nationalsozialistischen Völkermord bezeichnen, konfrontiert. Als sie Reinhold Lagrene, den Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung, heiratete, widmete das Paar sein gemeinsames Leben der Bürgerrechtsarbeit.


 

Wir treffen die Mutter vierer Kinder, die von 1989 bis 1996 Vorsitzende des Verbandes Deutscher Sinti Baden-Württemberg war, in Mannheim. In einem repräsentativen Gebäude des Landesverbandes ist RomnoKher beheimatet. Es ist ein Haus für Bildung, Kultur und Antiziganismusforschung. Auch die von Romeo Franz geleitete Hildegard Lagrenne Stiftung  hat dort ihren Sitz. Im überdachten Innenhof schauen wir uns die Dauerausstellung „Mari Parmissi“ an, die die wechselvolle Geschichte der Roma und Sinti seit der ersten schriftlichen Erwähnung 475 v. u. Z. bis heute dokumentiert. Der Gewölbekeller beherbergt die Dauer- und Wanderausstellung „Typisch Zigeuner? Mythos und Wirklichkeit“, die nachdenklich stimmt. Wer weiß schon, dass Charlie Chaplin, Rita Hayworth, Yul Brynner und die Schlagersängerin Marianne Rosenberg einen Romno-Hintergrund haben? Wir gehen in den Spiegelsaal des Kulturhauses; an der Wand hängt ein bekanntes Gemälde der Künstlerin Lita Cabellut, in einer Ecke steht ein Piano, an das sich Romeo Franz nach unserem Gespräch setzt. Die Freude, einen Moment lang das politische Geschäft vergessen zu können, ist ihm anzusehen. Ilona Lagrene hört ihm aufmerksam zu.

Das ganze Gespräch bei fauskultur

Das Romanes, die Sprache der Sinti und Roma, ist durch die europäische Sprachencharta als einzigartiger Bestandteil des kulturellen Erbes Europas anerkannt. Sie wird in den Familien mündlich weitergegeben und ist eine wichtige kulturelle Ressource der Minderheit. Eine Kodifizierung der Sprache gibt es jedoch noch nicht.
Der öffentliche Gebrauch des Romanes ist lange Zeit von vielen Angehörigen der Minderheit abgelehnt worden. Zu sehr wirkten die Schrecken der nationalsozialistischen Verfolgung und des Holocausts, dem europaweit über eine halbe Million Sinti und Roma zum Opfer fielen, nach. Sogenannte Rassenforscher, die ab 1936 von der SS mit der vollständigen Erfassung der Minderheit beauftragt wurden, hatten die Sprache der Sinti und Roma erlernt, um sich deren Vertrauen zu erschleichen, auf deren Grundlage später die Deportationen in die Gettos und Vernichtungslager in das besetzte Polen erfolgten. Mittlerweile ist die interne Diskussion um den Spracherhalt und die Sprachpflege fortgeschritten und Reinhold Lagrene sah es als seine Aufgabe an, das Bewusstsein der Sinti und Roma für die Bedeutung der eigenen Sprache zu stärken. Anhand der Übersetzung von Gedichten deutscher Klassiker zeigt er, dass das Romanes eine Sprache ist, deren Lebendigkeit und Vielfalt sich ebenso für den lyrischen Ausdruck eignet wie die Sprache der von ihm übersetzten Werke. Den eigenen Leuten den sprachlichen Reichtum des Romanes näherzubringen und auch der Gesellschaft zu zeigen, dass die Minderheitensprache Romanes alles andere als ein Nischenprodukt ist, hatte er sich zum Ziel gesetzt.

Quelle: wunderhorn.de

Reinhold Lagrene (gest. 2016) war seit den 1970er Jahren in der Bürgerrechtsbewegung der Sinti aktiv. Seit der Gründung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma 1982 war er dort Vorstandsmitglied. Anfang der 1990er Jahre war er am Aufbau des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma beteiligt und wurde hier ebenfalls in den Vorstand gewählt. 2001 übernahm er nach langer Tätigkeit in den Landesverbänden Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz des Verbands Deutscher Sinti und Roma die Leitung des Referats Bildung im Dokumentationszentrum. Zusammen mit dem Musiker Romeo Franz entwickelte er das Projekt »Parmissi« – Erzählungen und Lieder der Sinti und Roma.