In seiner 2017 erschienenen Autobiografie The Way I See It erinnert sich der erfolgreiche Fotograf an die Zeit des Heranwachsens und des Überlebens während des Zweiten Weltkrieg. Das Naziregime sei allgegenwärtig gewesen; viele Nächte verbringt er mit seiner Mutter im Luftschutzkeller. Als Sohn einer alleinerziehenden Schauspielerin war er sich oft seiner selbst überlassen und unternahm einsame Streifzüge durch das zerbombte Berlin, das in Schutt und Asche lag. Seine Gabe zu beobachten und seine Freude am Anekdotischen, gepaart mit einem Hang zu trotziger Ironie, wie es sein Freund, der Filmemacher Peter Heller beschreibt, zeigt sich schon als Heranwachsender. Er sieht das Alltägliche, Einzigartige auch im Schrecken und hält solche „perfekten Momente“, wie er später sagt, früh mit der Kamera und in Notizen fest. Sein erstes bedeutsames Bild, das er im Alter von elf Jahren macht, zeigt eine Gruppe von Leuten, die 1942 in einem Luftschutzkeller Schutz suchen und einem Akkordeonspieler lauschen. Kurze Moment des Glücks. Jürgen Schadeberg hatte diesen scharfen Blick für den „richtigen“ Moment von früh an. Später wird er seinen Studenten erklären, dass man als Fotograf „ein Foto sieht.“ „Wenn man fotografieren will, muss man lernen zu sehen.“
1947 emigrierte die Mutter mit ihrem neuen Mann nach Südafrika und schickt den Sohn in die Ungewissheit nach Hamburg. Er schließt eine Ausbildung in der Fotoabteilung der Deutschen Presseagentur (DPA) im Mittelweg ab. Der in Frankfurt geborene journalistische Reisefotograf Walther Benser wurde sein Mentor; er hat wie sein Schüler Schadeberg Zeit seines Lebens mit der Leica fotografiert. Bald hat der junge Schadeberg genug von Deutschland, das in Trümmern dalag, und wollte weg.
Schadeberg. Schwarz.Weiß
1950 fiel die Entscheidung, Deutschland zu verlassen; Schadeberg bestieg ein Schiff und folgte der Mutter. An einem kalten Wintermorgen, schreibt er in seinen Memoiren, kam er in Johannesburg an. Er hatte einen Zettel mit der Adresse seiner Mutter darauf, seine wenigen Sachen in einem kleinen, billigen Koffer auf dem Bahnsteig neben sich und seine kleine Leica-Kamera, wie immer, um den Hals. Zeit seines Lebens. Eine Kamera, klein, äußerlich fast altmodisch, der man nicht ansieht, dass in ihr höchste digitale Qualität steckt. Nicht eine dieser riesigen Kameras mit den großen Objektiven, sondern eine Kamera, die dem Fotografen erlaubt, ganz unauffällig seine Aufnahmen zu machen. Der Münchner Dokumentarfilmer Peter Heller ist Schadeberg oft begegnet. In seinem Film „Schadeberg. Schwarz-Weiß“ führt er durch die Bilderwelten des Meisterfotografen in die Geschichte der Apartheid und des Widerstandes gegen den Rassismus in den Fünfziger und Sechziger Jahre. In einer Szene erzählt Schadeberg, wie er nach seiner Ankunft auf Arbeitssuche ging, wegen seiner kleinen Leica zunächst belächelt wurde „Nun, wenn Sie mit dieser Miniaturkamera nach Südafrika kommen, haben Sie nicht die geringste Hoffnung, jemals einen Job zu bekommen“, erzählt er lächend habe man im bei der Tagesezeitung Sun abgewimmelt hatte. Eine Anstellung fand Schadeberg dennoch und zwar bei der legendären Zeitschrift Drum, einem illustrierten Magazin, das vor allem von Schwarzen gelesen wurde und einen emanzipatorischen Anspruch hatte. Schadeberg wurde Chef-Fotograf, Bild-Redakteur und künstlerischer Leiter bei Drum. „Damals gab es keine Fotografen, keine schwarzen Fotografen. Das hieß, dass ich nun alleine herumrennen musste, überall, und machte die ganze Fotografie für Drum“. Die Zeitschrift konzentrierte sich in dieser Zeit auf Reportagen und Fotografien, die zu Schlüsselmomenten des schwarzen Widerstands in Südafrika wurden. Schadeberg arbeitete häufig mit dem investigativen Journalisten Henry Nxumalo zusammen, der die unmenschlichen Bedingungen im Apartheidregime aufdeckte und später ermordet wurde.
Im Film von Peter Heller sitzen Jürgen Schadeberg und Sylvester Stein, der ehemalige Chefredakteur von Drum, beieinander und erinnern sich. „Die Idee von Drum war es, mit den Schwarzen zu kommunizieren, die aus Südafrika stammten, die keine eigene Zeitschrift hatten, keine richtige Zeitschrift. Es waren Bilder, Bilder, die einem zeigten, was die Geschichte war (…) Es war eine Art der Kommunikation, eine Art, miteinander zu kommunizieren, um tatsächlich eine Form des Verstehens zu schaffen, eine moderne Art der Kommunikation zu jener Zeit.“
Chronist der Apartheid
Den charismatischen Nelson Mandela traf der junge Fotograf das erste Mal im Dezember 1951, Mandela war damals Präsident ANC Youth League. Die Bilder des jungen selbstbewussten Anwalts in seinem Anwaltsbüro in Johannesburg gingen um die Welt. 1958 hält er den Moment fest, als Nelson Mandela wegen Landesverrats vor Gericht steht. Jahrzehnte später begleitet er Mandela, vier Jahre nach dessen Freilassung in die Zelle, in der der Häftling 466/64 26 auf Robben Island inhaftiert war. Das Foto, das Schadeberg von dem Friedensnobelpreisträgers Mandela, der 1994 mit dem ANC die Wahlen in Südafrika gewonnen hat, an dem Ort machte, an dem Mandela 26 Jahre in Gefangenschaft lebte, schrieb Weltgeschichte. „Mandela war sich seiner selbst sicher. Und ich schuf eine Atmosphäre des Friedens und der Entspannung, und ich glaube, das kann man auf den Fotos sehen.“
Jürgen Schadeberg portraitierte neben Nelson Mandela wichtige Persönlichkeiten der Geschichte Südafrikas wie Moroka, Walter Sisulu, Yusuf Dadoo, Huddleston und andere … und er fotografierte die Prozesse gegen die schwarzen Führer, dokumentiert die Arbeit des ANC, gab den Opfern der Massaker von Sharpeville ein Gesicht und hielt die Zwangsumsiedlung von Sophiatown in seinen Fotos fest. Er wird weltweit als „Chronist der Apartheid“ angesehen. Eine Würdigung, die ihn sein Leben lang begleitet hat und sich in seine Wirkungsgeschichte als dokumentarischer Fotograf eingeschrieben hat. Schadeberg hat in seiner Zeit in Südafrika viele schwarze Fotografen ausgebildet, darunter auch den bekannten Fotodokumentaristen Peter Magubane, der seine Kamera einsetzte, um Bilder von den Erfahrungen und Kämpfen schwarzer Südafrikaner während der Apartheid zu machen. Seine Bilder fanden weltweit Verbreitung und Anerkennung.
All That Jazz
Das kulturelle Zentrum im Stadtteil Sophiatown und der Musik-Szene übte einen starken Sog auf den jungen Schadeberg in den 1950 Jahren aus. In dem Vorort von Johannesburg pulsierte das Leben. In Sophiatown hatte sich eine neue städtische Kultur der schwarzen Bevölkerungsmehrheit herausgebildet. Schwarze Künstler, Literaten und Musiker lebten hier: Jürgen Schadeberg war fasziniert vom Nachtleben, den Bars und den Tanzsälen, dem Jazz und dem Blues und tauchte in diesen Mikrokosmos ein. Peter Heller hatte den späteren Freund Jürgen Schadeberg über Denis Goldberg, der kürzlich verstorbenen weißen Anti-Apartheid-Kämpfer kennengelernt. Schadeberg, sagt er, habe immer eine besonderen Bezug zur Musik gehabt und sei ein Fachmann für Jazz und Blues in Südafrika gewesen. Er kannte sie alle, den Posaunisten Vy Nikosie, die Bluessängerin Dolly Rathgebe, den Saxofonisten Kippie Moeketsi, den Trompeter Hugh Masekela… Die Schönheit dieser Art des Jazz, den die talentierten Musiker in Sophiatowen feierten, mochte Schadeberg in seiner Rauheit. In seinem Buch Jazz, Blues & Swing setzte er später mit seinen Fotografien der großen Künstlern und Künstlerinnen der Musikszene Südafrikas über sechs Jahrzehnen hinweg ein Denkmal.
Voices from the Land
Befragt von einer jungen Journalistin in Südafrika, das er 1964 verlassen hatte und wohin er zwanzig Jahre später zurückgekehrt war, antworte er auf die Frage, wie es sich anfühle, Teil einer solchen unglaublichen Bewegung wie der Anti-Apartheid-Bewegung zu sein, antwortet Schadeberg: “Nun, ich weiß nicht, ob ich wirklich ein Teil davon war – ich habe es beobachtet.“ Schadeberg wurde, sagt Peter Heller, „von den Leuten respektiert“. Er hat gern „provoziert, war unangepasst und hatte aber beste Beziehungen zu Afrikanerinnen und Afrikanern. Er war einer unter Gleichen.“
„Als wir in den Slums waren, spürte ich, dass die Leute ihn mochten. Da war so eine Herzlichkeit, ein Vertrauensverhältnis. Er kam immer wieder zu Leuten, hatte sich auf die Begegnung vorbereitet und sich an das erinnert, was ihm die Leute vor Jahren gesagt hatten. Er sprach lange mit den Leute und dokumentierte, wie sie lebten, wie es ihnen ging.“ Schadeberg habe Zugang zu Lebensorten in Slums und Squatters in und um Johannesburg gehabt, die für Weiße auch heute noch zu betreten, ein Tabu sei. „Er konnte Türen öffnen“. In seinen Fotos spiegeln sich oft prekäre Verhältnisse, unter denen die Menschen leben. In „Voices from the Land“ zeigt Jürgen Schadeberg in einer sozialdokumentarischen Arbeit die harte Realität der von der Öffentlichkeit vernachlässigten Welt des Landlebens von Tagelöhnern und Farmern im Neuen Südafrika. Armut Auch hier versucht er, eine Geschichte, die in der Vergangenheit war, wieder in die Gegenwart zu bringen“, Das sei eine komplizierte, doppelte Geschichte. „Ich muss ich sie zum Teil dann manchmal hier und da beeinflussen.“
1964 ging Schadeberg nach London, lebt später in New York und in Frankreich. In den sechziger und siebziger Jahren arbeitete er als freier Fotojournalist in Europa und Amerika für verschiedene renommierte Zeitschriften. Er reist in afrikanische Länder. Die Fotografien aus dieser Zeit stellen eine reiche Mischung aus sozialdokumentarischer Arbeit und einigen modernistischen, abstrakten Bildern dar. Er unterrichtete als Dozent, unter anderen an der New School in New York, der Central School of Art & Design in London und der Hoch Kunstschule in Hamburg. Während dieser Zeit kuratierte er mehrere große Ausstellungen, darunter „The Quality of Life“, die 1976 das Neue Nationaltheater eröffnete. Mit seiner Frau, der Kunsthistorikerin und Producerin Claudia, veröffentlichte er zahlreiche Fotobände und produzierte Dokumentarfilme. Seine Fotos wurden bei zahlreichen Ausstellungen gewürdigt, ein umfassender Werkkatalog gewann mehrere Preise. Schadebergs Lebenswerk wurde unter anderem in dem 2004 erschienenen Film „Drum – Wahrheit um jeden Preis“ gewürdigt.
Noch im hohen Alter war er auf der Suche nach neuen Herausforderungen. So plante er, sagt sein Freund Peter Heller, der ihn 2019 in der Nähe von Valencia und in einem Bergdorf besucht hatte, sich einen Jeep kaufen, um verlassene Dörfer in den Bergen zu Spanien zu fotografieren. Und wenn er, Schadeberg, dorthin humpeln müsse. „Ich sehe mich nicht als Person, die eine Mission hat, Leuten irgendetwas beizubringen. Ich fotografiere das Leben“, sagt Schadeberg. „Mein Interesse in die Photographie ist hauptsächlich das Tägliche, das Gewöhnliche, das Langweilige zum Teil, das uns jeden Tag begegnet, aber wir nicht mehr sehen, da es täglich ist, da es langweilig ist, da es vergessen ist und das interessiert mich mehr als alles andere.“ Das ist sein Vermächtnis; viele seine Fotos haben sich ins globale Bildgedächtnis eingegraben.