"Nägel der Erde“ – Helden der sudanesischen Literatur

Marcella Rubino im Gespräch mit Abdelaziz Baraka Sakin

Abdelaziz Baraka Sakin

Schriftsteller

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Abdelaziz Baraka Sakin ist einer der aktivsten und gefragtesten Autoren des Sudan und der arabischen und afrikanischen Welt. In seinem literarischen Werk verarbeitet er in magischer, poetischer Schreibart politische Konflikte und das komplizierte Erbe in seinem Heimatland. Abdelaziz Baraka Sakin war in den letzten Jahren häufig zu Gast in Deutschland. Im September 2016 war er eingeladen beim Internationalen Literaturfestival Berlin, 2019 bei Voices of Africa – Crossing Borders Köln. Im Januar 2020 war er zu Gast beim Africa Alive Festival in Frankfurt am Main. Begleitet von seinem Übersetzer Günther Orth las er aus seinem Werk und nahm an einer Diskussion teil, die sich mit der politischen Zukunft des Sudan beschäftigte. Im gleichen Jahr erhielt er den Prix de la Littérature Arabe 2020 für seinen Romanالجنقو“ (Les Jango).

Die Plattform Orient XX (orientxxi.info/outils/la-lettre-d-information) veröffentlichte im März 2021 ein aufschlussreiches Interview unter dem Titel ‚Les clous de la terre héros, de la littérature soudanaise‘. Das Gespräch führte Marcella Rubino, Professorin für  Arabistik an Universität Paris 1 Pantheon-Sorbonne. Wir veröffentlichen es hier mit freundlicher Genehmigung.

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Für Abdelaziz Baraka Sakin sind die „ethnischen Konflikte“ im Sudan in Wirklichkeit Klassenkonflikte. Und die jungen Revolutionäre und Revolutionärinnen haben sich in ihren Parolen mit den Ausgegrenzten identifiziert, die in seinen Romanen vorkommen.

Abdelaziz Baraka Sakin hat in den 80er Jahren zu schreiben begonnen, in einer Zeit als der Sudan von Präsident Gaafar Nimeiry regiert wurde, der 1989 durch einen Putsch an die Macht kam, und die Zensur schwer auf den Schriftstellern lastete. Für sein Studium geht er nach Ägypten und veröffentlicht dort seine ersten Bücher, die bei der Leserschaft im Sudan großen Anklang fanden.

Zurück in seinem Heimatland übt er mehrere Berufe im öffentlichen Dienst aus, bevor er entlassen wird, weil er sich weigert, seinen Militärdienst abzuleisten. Danach arbeitet er im humanitären Bereich für internationale Organisationen. In dieser Zeit wird er auf eine Mission nach Darfur geschickt, um den Truppen der NATO und der Afrikanischen Union (AU), die für die Überwachung des Darfur-Krieges (2003-2009) zuständig sind, eine Ausbildung in Fragen der Menschenrechte zu geben. In diesem Krieg kämpfen Regierungsarmeen und arabische Söldner, die als Djandjawid bekannt sind, auf der einen Seite gegen lokale Ethnien, die von Khartum als „Aufständische“ angesehen werden und hauptsächlich aus sogenannten „afrikanischen“ Ethnien bestehen.

Zurück in Khartum, verarbeitet er seine Erfahrungen in seinem berühmtesten Roman, der in mehrere Sprachen übersetzt wird: Le Messie du Darfour [erschienen bei Zulma, 2016; übersetzt aus dem Arabischen von Xavier Luffin]. Alle seine Bücher werden beschlagnahmt und er erhält wiederholt Drohungen; sie zwingen ihn dazu, das Land zu verlassen. Er lässt sich in Österreich nieder, dort erhält er den Status eines politischen Flüchtlings. Einige Jahre später zieht er nach Frankreich, wo er heute lebt.

Le Messie de Darfour ist die Geschichte einer jungen Frau, die Zeugin des Massakers an ihrer Familie in einem der während des Krieges von einer Miliz zerstörten Dörfer in Darfur geworden wird. Sie fast den Entschluss, sich den (männlichen) Namen Abdel Rahman zu geben und schließt sich der „Rebellen“-Armee an, um ihre Familie zu rächen. In dieser vielstimmigen Erzählung kommen abwechselnd die Protagonistin und ihr Begleiter Shikiri zu 

Wort, ein junger Darfurianer, der in die reguläre Armee zwangsrekrutiert und dann von den Rebellen gefangen genommen wurde; dann Ibrahim Khidr, ein Nachfahre der schwarzen Sklavin Bakhita, „von der Farbe des Rußes“, die einem arabischen Händler übergeben wurde, der sie schwängerte und ein Kind, Ibrahim, zeugte, das etwas hellhäutiger ist als seine Nachbarn, aber nicht als „Araber“ erkannt wird; und schließlich die Tante Kharifiyya, die den jungen Abdel Rahman aufnimmt und adoptiert, nachdem sie mehrmals von den Djandjawid in der Nähe der Stadt Nyala vergewaltigt worden ist.

« ARABER » VS. « AFRIKANER »,
EINE KLASSEN UNTERSCHEIDUNG

Marcella Rubino: Das zentrale Thema des Romans ist der Konflikt zwischen „Arabität“ und „Afrikanität“ im Sudan. Ist dieser Konflikt real oder ist er aus der Luft gegriffen?

Abdelaziz Baraka Sakin: In dieser Region, die jahrhundertelang eines der größten Sklavenreservoirs des afrikanischen Kontinents war, sind die sogenannten „arabischen“ und „afrikanischen“ Ethnien durch Mischehen und gemeinsame Praktiken untrennbar miteinander verbunden. Der Begriff „Araber“ wird sowohl in Bezug auf die adlige Abstammung einer vermeintlichen Nähe zum Propheten des Islams verwendet als auch als abwertender Begriff, um arme und ungebildete Beduinen zu beschreiben, mit dem zusätzlichen Paradoxon, dass einige sogenannte „arabische“ Ethnien gar kein Arabisch sprechen. Der Begriff „Afrikaner“ ist ebenso problematisch. Es ist praktisch unmöglich, zwischen denen, die zur letzteren Kategorie gehören, und denen, die zur ersteren gehören, zu unterscheiden. Während der Kolonialzeit setzten sich zwei große „arabische“ Ethnien des Niltals, die Djaaliyyin und die Danaqla, vor allem dank des Sklavenhandels durch, einem der erfolgreichsten Handelszweige der Region.

Nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1956 übernahm eine Elite, die sich aus diesen Ethnien und denen, die sich um sie scharten, zusammensetzte, die Kontrolle über das Land. Darfur, ein stark armes und vernachlässigtes Gebiet aus dem Zentrum rings um das Niltal herum, fand sich in den frühen 2000er Jahren plötzlich von bestimmten Personengruppen bevölkert, die – in Opposition zu den Mächtigen in Khartum und den „Arabern“, die in Darfur deren militärische Unterstützung darstellten – als „Afrikaner“ definiert wurden, die es zu zähmen, zum Schweigen zu bringen und sogar zu vernichten galt.

Sie stammen aus Kassala, im Ostsudan. Wie waren die Beziehungen zwischen den „arabischen“ und „afrikanischen“ Ethnien in Ihrer Heimatstadt?

Ich bin in Kassala geboren, aber meine Geschichte ist komplexer. Meine Mutter kam ursprünglich aus dem Tschad. Nach einer Pilgerfahrt nach Mekka blieb ihre Familie in Saudi-Arabien und ließ sich dann in einer Stadt an der Grenze zwischen der Region namens Abessinien und dem Sudan nieder. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zog die Familie meiner Mutter wegen der Kämpfe zwischen den Italienern und den Briten in der Region in den Sudan, in die Stadt, die der Grenze zum heutigen Eritrea am nächsten lag. Was meinen Vater betrifft, so gehört er den Masalit an, deren autonomes Königreich zwischen Darfur und Tschad lag.

Kassala ist eine Stadt, die sich aus Ethnien ganz unterschiedlicher Herkunft zusammensetzt: aus dem Osten, Westen und Norden des Sudan, aber auch aus nigerianischen Ethnien, die Land besitzen. Es gibt keinen Konflikt zwischen denen, die „Araber“ genannt und denen, die „Afrikaner“ genannt werden. Die meisten Ethnien in dieser Region gehören zu den Bedja, die auch in Äthiopien und Eritrea vorkommen und die keine „arabischen“ Ethnien sind. Deshalb gibt es in Kassala nicht den Rassismus, der in den großen Städten des Nordens und in Darfur zu finden ist.

Was ist die Geschichte dieser Unterscheidung zwischen „Arabern“ und „Afrikanern“ im Sudan?

Die Araber kamen in mehreren Wellen in den Sudan. Nach lokalen Überlieferungen gab es eine wichtige Welle nach dem Fall von Al-Andalus im 15. Jahrhundert. Nach dieser Version lebten arabische Ethnien seit etwa sechs Jahrhunderten in Darfur und vermischten sich mit den lokalen afrikanischen Ethnien, wie den Masalit, Fur, Dajo, Zaghawa und anderen. Heirat führte zur Vermischung dieser Bevölkerungen, die seit Jahrhunderten dasselbe Land und dieselbe Hautfarbe teilen, sodass es fast unmöglich war, zu unterscheiden, wer „arabisch“ und wer „afrikanisch“ war. Einige Ethnien, die später als „arabisch“ definiert wurden, sprachen nicht einmal diese Sprache, sondern lokale Sprachen wie Farta in der Region des Blauen Nils. Die Unterscheidung zwischen „Arabern“ und „Afrikanern“ entstand nach der Unabhängigkeit mit der Machtübernahme aufeinander folgender Regierungen, die die Arabisierung und Islamisierung des Landes durchsetzten und verordneten, dass sich die Identität des Sudan aus den beiden Elementen Arabisch und Islamisch zusammensetzt. Seitdem ist die Frage der angeblichen „Arabität“ eines Teils der Bevölkerung und der herrschenden Elite mit dem Wunsch verbunden, die Verwaltung und die Ressourcen des Landes zu kontrollieren. Die Politik der Arabisierung erfolgte insbesondere durch die gesteuerte Einwanderung anderer arabischer Ethnien aus Niger, Tschad und anderen Sahel-Ländern nach Darfur. Diese wurden von den arabisch-islamischen Regierungen im Norden nach und nach bewaffnet und für den Krieg gegen jene, die sie nun verächtlich als „Zurga“ (Schwarze) bezeichneten, ausgebildet.

ERBEN DER SKLAVEREI

Die Frage der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie im Sudan ist auch mit der Geschichte der Sklaverei verbunden. Können wir sagen, dass es im Sudan immer noch Überreste der Sklaverei gibt?

Heute gibt es im Sudan keine Sklaverei als solche mehr. Andererseits sind die Nachwirkungen dieser Praxis immer noch sehr stark. Eines der ersten Elemente der Unterscheidung zwischen sozialen Klassen basiert auf der Hautfarbe (jeder ist schwarz, aber mit Nuancen, die durch mögliche Mischungen mit ethnischen Elementen mit „weniger schwarzer“ Haut gegeben sind). So werden zum Beispiel die Masalit, obwohl sie nie Sklaven waren, wegen ihrer „sehr dunklen“ Hautfarbe bis heute oft „abd“ (Sklave) genannt. Das ist paradox, denn wir wissen, dass sich nicht alle Sklaven durch besonders dunkle Haut auszeichneten. Wie man in Le Messie du Darfour sehen kann, waren viele von ihnen die Nachkommen von Partnerschaften zwischen Sklavinnen und „weißen“ Herren (wie zum Beispiel den osmanischen Türken oder Ägyptern). Ein weiterer Effekt der Sklaverei ist, dass die ehemaligen Sklavenhalter immer noch den Reichtum des Landes besitzen. Die Regierung hat sehr von diesem Konflikt zwischen dem “ afrikanischen“ Abd und dem „arabischen“ „Hurr“ (freies Individuum) profitiert. Die sudanesische Literatur befasst sich viel mit diesem Thema, denn es ist grundlegend und komplex zugleich. In der sudanesischen Gesellschaft ist es immer noch ein Tabu.

Warum beschäftigen Sie sich so oft mit diesem konstruierten Gegeneinander von „Arabern“ und „Afrikanern“, auch wenn es in Ihren Romanen um andere Themen geht?

Meine Erfahrungen in Darfur während der Ausbildungsmission, die ich leitete, inspirierten meinen Roman. Ich wollte zeigen, dass der Krieg, der von der damaligen Regierungspropaganda als Konflikt zwischen „Arabern“ und „Zurga“, zwischen „Weißen“ und „Schwarzen“, zwischen Hirten und Bauern beschrieben wurde, nichts anderes war als ein Konflikt zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“, im Fall von Darfur eine Peripherie, die seit Jahrzehnten vernachlässigt worden war. Mein anderer Roman, Les Jango [Zulma, 2020; übersetzt aus dem Arabischen von Xavier Luffin], handelt von einer anderen Form der Ausgrenzung, nämlich die der Saisonarbeiter des Landes. Sie sind sowohl die Paria der Gesellschaft, die ihr Zentrum in Khartoum hat, als auch der Dreh- und Angelpunkt, um den sich das Überleben derselben dreht. Ohne diese ausgebeutete Arbeiterklasse hätte das Land – und insbesondere dessen reicheres und entwickeltes Zentrum – nicht genug, um sich selbst zu ernähren. Deshalb nenne ich sie „die Nägel der Erde“ (masamir al-ard), d.h. diejenigen, die ihr Halt geben und ohne die sie verwelken würde.

LITERATUR UND REVOLUTION

Hat die Literatur die Macht, diese fiktive, von der politischen Macht konstruierte Darstellung der Identität zu korrigieren?

Das könnte sie, wenn sie für möglichst viele Menschen zugänglich wäre. Aber im Sudan hat die Mehrheit der Bevölkerung keinen Zugang zu Bildung, und von denen, die einen haben, interessieren sich nur sehr wenige für Literatur. Aber bei der kleinen intellektuellen und gebildeten Elite haben meine Romane einen sehr starken Eindruck hinterlassen. Als ich Les Jango schrieb, entdeckten die Intellektuellen des Landes die Existenz der Saisonarbeiter, um die es in diesem Roman geht. Heute werden wissenschaftliche Studien über sie durchgeführt und Jugendverbände nach ihnen benannt. Während der Demonstrationen, die zum Sturz des Regimes von Omar al-Bashir im Jahr 2019 führten, hielten die Demonstranten Schilder hoch, auf denen zu lesen war: „Les Jango, die Nägel des Landes“, und signalisierten damit eine Identifikation der revolutionären Jugend mit diesen marginalisierten Mitgliedern der Gesellschaft, die aus der Not des sudanesischen Volkes geboren wurden. Le Messie de Darfour fand bei der intellektuellen Elite des Sudan ebenfalls großen Anklang. Durch diesen Roman entdeckten sie, dass der Konflikt in Darfur nicht ethnisch, sondern politisch war und dass das ethnische Element nur geschaffen worden war, um den strategischen Zielen der Führung in Khartum zu dienen. Auch die Literatur hat wenn auch sehr begrenzt und punktuell einen Einfluss auf die sozialen, kulturellen und politischen Strukturen im Sudan gehabt. Dennoch bleibt sie für die große Mehrheit der Bürger unzugänglich, vor allem für diejenigen, die im Mittelpunkt dieser stehen. Ihre Rolle wird so lange unbedeutend bleiben, wie sie nicht von einer großen Leserschaft, einer gut funktionierenden Verlagsindustrie und einer Meinungsfreiheit profitiert, die im Sudan heute noch sehr eingeschränkt ist.

Übersetzung: Urielle Christal Kalala