„Wir dachten, wir können Afrika verändern…"

Ein Gespräch von Boniface Mongo-Mboussa mit Aimée Gnali

Aimée Gnali

Politikerin, Schriftstellerin

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1987 hat Tchicaya U Tam’si den Roman Ces fruits si doux de l’arbre à pain im Verlag Seghers veröffentlicht. Das Thema: die Gerechtigkeit und die Toten ohne Grabstätte im postkolonialen Afrika und besonders in der Republik Kongo. Dreizehn Jahre nach seinem Tod und verbittert durch den Gedächtnisschwund ihrer Landsleute und der Gewalt der drei Bürgerkriege, die die Republik Kongo (Kongo Brazzaville) verwüstet haben, veröffentlicht Aimée Mambou Gnali, die Schwester des großen Poeten, eine schöne Erzählung: Beto na Beto, le poids de la tribu. Diese erzählt von ihrem Liebesleben mit Lazare Matsocota, einem brillanten Intellektuellen und Mitglied des denkwürdigen F.E.A.N.F (Fédération des étudiants d’Afrique noire française), der 1965 im Kongo, unter nie aufgeklärten Umständen, ermordet wurde. Beto na beto ist abwechselnd ein intimer Bericht, ein historisches Dokument und eine Hommage aus dem Jenseits und beleuchtet die Mechanismen der politischen und ethnischen Gewalt im Kongo: ein authentisches politisches Dokument von brennender Aktualität, welches das bittere Versagen der F.E.A.N.F anprangert und zeigt, wie sehr sich unsere postkolonialen Gesellschaften von der Menschlichkeit abwenden.

Das Interview mit Aimée Gnali wurde von Boniface Mongo-Mboussa, einem in Paris lebenden bekannten Schriftsteller und Literaturkritiker geführt. Mongo-Mboussa ist literarischer Berater des Salon africain der Genfer Buchmesse und Dozent für frankophone Literaturen am Pariser Sarah Lawrence College. Zudem zeichnet er verantwortlich für die Literaturkritik in der Zeitschrift africultures, die – in Paris herausgegeben – das kreative Schaffen Afrikas kritisch begleitet (passage-wilss.de/afrikanische-ansichten). Aimée Gnali, geboren 1935, ist eine aus Kongo-Brazzaville stammende Schriftstellerin, Politikerin und war mehrfach Ministerin und Mitarbeiterin der UNESCO.

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Maria Nemeth: Boniface Mongo-Mboussa war im Februar 2018 zum 24. Africa Alive Festival in Frankfurt zu Gast, in dessen Mittelpunkt das Thema „AFROTOPIA – AFRO UTOPIA (africa-alive-festival.de/podiumsdiskussion-afrotopia-afro-utopia/) stand. Der Anlass dazu war der gerade erschienene Band des senegalesischen Ökonomen und Autors Felwine Sarr mit dem Titel Afrotopia. Im Rahmen einer Podiumsdiskussion mit Felwine Sarr, Boniface Mongo-Mboussa, dem Philosophen und Schriftsteller Eugenio Nkogo Ondo, des kamerunischen Filmemachers Jean-Pierre Bekolo und der Schriftstellerin Lucy Mushita aus Zimbabwe wurde dieser neue Denkansatz den früheren Konzepten wie Negritude, Authentizität, Afrikanische Renaissance, Ubuntu und dem Radikale Denken gegenübergestellt und eingehend erörtert.

Boniface Mongo-Mboussa hat die Diskussion in Frankfurt im Haus am Dom maßgeblich geprägt. Einigkeit herrschte darüber, dass Afrika sich mental und wirtschaftlich dekolonisieren und auf seine eigene Ressourcen zurückbesinnen sollte.

Boniface Mongo-Mboussa; © Alexander Paul Englert
Von li nach re: Felwine Sarr, Richard Kuba, Boniface Mongo-Mboussa, Mamadou Diawara, Lucy Mushita, Margrit Klingler-Clavijo, Eugenio Nkogo Ondó; © Alexander Paul Englert

Was waren und sind immer noch die hauptsächlichen Hindernisse einer selbstbestimmten Entwicklung in Afrika?

Muepu Muamba: Es gibt natürlich verschiedene Gründe, jedoch einer der wichtigsten unter ihnen ist der Tribalismus, der die Politik in Afrika immer noch prägt und eine echte Zusammenarbeit innerhalb der afrikanischen Staaten verhindert. Die dringende Aufgabe ist es, ein Bewusstsein von nationaler Zusammenhörigkeit in den einzelnen Länder zu schaffen, um den Tribalismus zu überwinden, – wie es die Gründerväter Afrikas, unter ihnen Kwame Nkrumah, Julius K. Nyerere, Lumumba und Mandela angestrebt hatten. Danach erst kann der Weg für die Zusammenarbeit zwischen afrikanischen Staaten im Sinne des panafrikanischen Gedankes geebnet werden.

Bezieht sich also das folgende Interview mit Aimée Gnali auf das immer noch schwelendes Problem des Tribalismus?

Muepu Muamba: „Ja, Aimée Gnali behandelt in ihrem 2001 in Paris in der Reihe Continents Noirs bei Gallimard erschienenen Buch Beto na Beto, le poids de la tribu (wörtlich übersetzt „Unter uns. Die Last der Abstammung“) genau dieses dringliche Problem. Sie beschreibt die zerstörerischen Mechanismen anhand ihrer eigenen Lebensgeschichte. Aimée Gnali hat die verheerende Wirkung des Tribalismus aus eigener Erfahrung durchlitten.

„Das ist“, wie Henri Lopez kommentiert, von 1973 bis 1975 Premierminister von Kongo Brazzaville, „der rote Faden des Buches Beto na beto, das in einer unseren Sprachen heißt: „Unter uns“, hinter geschlossenen Türen, ohne die anderen Ethnien“.

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KOLLEKTIVE AMNESIE

Gnali: © Jacques Sassier - Editions Gallimard

Boniface Mongo-Mboussa: Ihr Buch stellt mit Lazare Matsocota eine der emblematischen Figuren der politischen Geschichte Kongo vor, Brazzavilles, der ein wichtige Rolle für das unterdrückte kongolesische Gedächtnis darstellt. Warum haben Sie so lange gewartet, um über diese kongolesische Geschichte zu schreiben?

Aimée Gnali: Lassen Sie es mich so sagen; ich spürte nicht die Notwendigkeit, oder besser gesagt, ich wollte mir anfangs ein persönliches Bedürfnis erfüllen. Ich wollte über diese intime Erfahrung mit einem Mann sprechen. Und erst nach der Conférence nationale souveraine (Nationalkonferenz) 1990, habe ich entschieden, dieses Buch zu schreiben, da ich festgestellt habe, dass die Menschen die Geschichte nicht kennen. Und ich war empört über unsere kollektive Amnesie, über die Tatsache, dass unsere Politik und unsere Staatsmänner nie diese dunkle Periode unserer Geschichte angesprochen haben.

Nirgendwo, weder in Büchern noch in historischen Abhandlungen, der 15. Februar 1965 wird nie erwähnt. Ich finde das skandalös. Und da während der Nationalkonferenz, die Frage der Toten ohne Grabstätte aus dem Jahr 1975 wieder aufkam, dachte ich, dass es an der Zeit ist, diesen Teil unserer Geschichte, unseres kollektiven Gedächtnisses wieder auferstehen zu lassen. Ich habe die erste Version dieses Buches im April 1993 beendet, kurz vor dem Krieg. Und ich habe das Buch Freunden zum Lesen gegeben, darunter Abdoulaye Yérodia, der mir eine präzise handgeschriebene Kritik von sieben Seiten gab. Nino Chiapano, den Sie auch kennen, hat das Manuskript ebenfalls gelesen. Mit Hilfe ihrer Kritiken habe ich angefangen, die zweite Version zu schreiben, aber in aller Ruhe. Ich fühlte keine Dringlichkeit zu schreiben. Und in der Zeit des zweiten Krieges, 1977, habe ich das Manuskript Henri Lopès geschickt, er war sehr begeistert. Er hat es meinem Herausgeber, Jean-Noël Schifano, unterbreitet. Dieser hat mich gebeten, den historischen Teil hinzuzufügen, um es besser einordnen zu können.

Als ich Ihr Buch las, musste ich immerzu an Fruits si doux de l‘arbre à pain von Tchicaya U Tam’si denken. Ist der historische Hintergrund nicht derselbe? Hier wie auch bei Tchicaya haben die Toten keine Grabstätte.

Im Grunde hat Tchicaya U Tam’si die gleiche Geschichte inspiriert. Ich weiß es, da wir darüber gesprochen haben. Tatsächlich gibt es in Tchicayas Roman eine Figur, Richter Poaty, die von dem 1965 ermordeten Staatsanwalt Pouabou inspiriert wurde. Der Unterschied zwischen den beiden Büchern ist, dass Tchicaya die Geschichte nutzt, um Fiktion zu schreiben. Meine Erzählung dagegen ist autobiografisch, authentisch, so wie ich es erlebt habe. Im Übrigen hat Tchicaya, von Les Cancrelats über Les Méduses bis zu Fruits si doux de l’arbre à pain, die ganze Geschichte Kongos, von der Kolonisation bis zu der Unabhängigkeit, erzählt. Man muss nur zwischen den Zeilen lesen können.

Wann, glauben Sie, ist Lazare Matsocota ein Fehler unterlaufen?

Tatsächlich rutscht er immer wieder aus. Von dem Moment an, in dem Sie die eigene Ethnie der Nation vorziehen, werden Sie wahrscheinlich einen Fehler machen. Natürlich kann die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ein politisches Sprungbrett sein. Und er sah es auch so. Aber dann wird er davon überwältigt. Und irgendwann hätte er eine Entscheidung treffen müssen. Das hat er aber nicht. Er hatte nicht den Mut dazu. Ich weiß nicht, ob es ein Mangel an Mut war, oder ob er dachte, dass er am Ende mehr zu verlieren als zu gewinnen hat. Das sagt er auch nicht. Er hat seine Auszeichnung durch Präsident Fulbert Youlou nie erklärt.

Ist die Zusammenkunft mit Ambroise Noumazalay, die Sie in Ihrem Buch erwähnen, nicht das, was sein Ende besiegelt, da er endlich entschieden hatte, aus der Verborgenheit zu kommen?

Anscheinend wollte er [die Red.: Lazare Matsocota] schon vorher hingehen. Und ich wusste es nicht. Als ich ihm gesagt habe, dass ich zu einem Treffen mit Ambroise Noumazalaye [die Red.: der damalige Premierminister von Kongo Brazzaville] bei Mambounou gehe, hat er mit geantwortet, dass er auch hingeht. Tatsächlich habe ich nicht verstanden, wie er sich an einen, ihm teilweise feindlich gesinnten Ort begeben konnte.

Wurden ihm seine ausposaunten politischen Ambitionen und sein Mangel an Bescheidenheit nicht zum Verhängnis?

Ich bin Ihrer Meinung, Lazare Matsocota hat abgelehnt, Minister zu sein, da er entweder Ministerpräsident oder gar nichts sein wollte; ich denke, er hätte den Ministerposten annehmen sollen. Als Aktivist muss man nicht Ministerpräsident sein, um etwas in seinem Land zu verwirklichen. Es stimmt, dass man in unseren Ländern nichts realisieren kann, wenn man nicht Präsident ist. Aber man muss das Spiel einfach mitspielen. Das heißt, das machen, was möglich ist. Ich denke im Übrigen, dass eine starke Persönlichkeit, wie er es war, es geschafft hätte, Aufmerksamkeit zu bekommen und vielleicht noch weiterzukommen. Das sind aber nur Mutmaßungen, man kann die Geschichte nicht nochmal schreiben.

BETO NA BETO – DIE LAST DER ABSTAMMUNG

Sie sagen in Ihrem Buch ebenfalls, dass das Gewicht der verschiedenen Ethnien in dem Moment explodiert, als der kongolesische Abgeordnete der Fünften Republik, Félix Tchicaya, sich zurückzieht und sich Präsident Youlou als politische Figur der Republik Kongo durchsetzt. Ist das nicht auch die Geschichte nochmal schreiben?

Ich bleibe dabei, lasse nicht nach und unterschreibe es, der Tribalismus hat vor Youlou in Kongo Brazzaville nicht stattgefunden. Man muss dazu sagen, dass das politische Spiel vor Youlou nicht dasselbe war. Félix Tchicaya ist kongolesischer Abgeordneter im Palais Bourbon. Die Kolonisten sind noch da. Im Grunde sind sie diejenigen, die das Land regieren. Wir kämpfen gegen sie, für unsere Unabhängigkeit. Zu dieser Zeit sind die politischen Führer, Félix Tchicaya und Jacques Opangault, noch dem Volk nahe. Sie kämpfen für das Volk. Ab der Unabhängigkeit stehen wir uns selbst gegenüber. Wir sind die einzigen Kapitäne an Bord. Statt das Land im Sinne des Allgemeinwohls zu führen, fangen wir an, uns selbst zu bedienen. Wenn ich von „bedienen“ spreche, meine ich nicht unbedingt in Bezug auf Geld. Denn heute gibt es Kongolesen, die zu Recht sagen, dass Youlou dafür verantwortlich gemacht wurde, sich persönlich bereichert zu haben, wenn man es mit der aktuellen Situation vergleicht, in der Politiker öffentliche Gelder veruntreuen. Jedenfalls fängt das Spiel der Ethnien mit Youlou an. Man fängt an sich als Kongolese zu fühlen. Im Übrigen wollte Youlou das gar nicht vertuschen. Wenn man ihn z. B. fragte, warum er nur die Laris und die Kongos zur Ausbildung nach Frankreich schickte, antwortete er „Sollen die anderen das doch auch machen. Warum schickt Gadzion nicht die Tékés? Warum schickt Tchitchelle nicht die Vilis usw.?“

Für ihn war die ethnische Logik eine natürliche Logik. Jeder sollte für seine Ethnie arbeiten, da in seiner Regierung alle Hauptethnien vertreten waren.

Wie wurde Ihr Buch von Ihren Landsleuten wahrgenommen?

Von der politischen Seite gibt es Schweigen. Ministerkollegen haben es gelesen. Sie haben mir gesagt, dass ich mutig bin. Die Intellektuellen, ihrerseits, es gibt einen schönen Artikel von Lecas Atondi in der Semaine Africaine. Tati Loutard hat mir gesagt, dass dieses Buch ein missglücktes Schicksal hätte heißen sollen, da es in der Tat um ein Buch geht, in dem nichts passiert. Zugegeben, es gibt im Mittelpunkt eine sehr starke, brillante Persönlichkeit. Aber das endet ganz schnell. Und dafür ist das beto na beto verantwortlich.

Ist dieses Buch jedoch nicht auch ein Buch über die Niederlage? Die Niederlage einer ganzen Generation des F.E.A.N.F, die davon träumte, Afrika zu verändern, die aber von der Politik zerdrückt wurden.

Absolut! Trotz allem, es gab keine Studenten meiner Generation, die Mitglieder vom F.E.A.N.F. waren. Außer Ambroise Noumazalaye. Ich muss zugeben, dass ich mich nicht getraut habe, mit Noumazalaye darüber zu sprechen. Ich weiß nicht, ob er mein Buch gelesen hat. Ich habe aber mit Senegalesen darüber gesprochen, die sicher nicht mit mir beim F.E.A.N.F waren, die aber andere Personen kannten, die ich in meinem Buch erwähne und die mir angeboten haben, zum Signieren nach Dakar zu kommen. Ich bin sicher, dass wir in Dakar interessante Diskussionen gehabt hätten, denn es sind Dinge, über die ich oft mit senegalesischen Freunden diskutierte. Wir dachten, wir könnten Afrika verändern, wir wurden von der Politik und von dem Staatsapparat reingelegt.

Die Schreibweise in diesem Buch ist nüchtern, kurzgefasst. Es ist wie ein Wille, zum Wesentlichen zu kommen und diese Arbeit der Trauer mit Würde zu erledigen.

Als ich Abdoulaye Yerodia die erste Version dieses Buches vorlegte, schlug er mir vor, den ersten Teil zu erweitern, insbesondere den Teil, in dem ich unsere Freundschaft mit den Menschen auf den Antillen beschreibe, und den Teil, der der Abtreibung gewidmet ist, um den Kontext der damaligen Zeit besser zu erklären. Ich habe nicht auf ihn gehört. Ich wollte, dass dieses Buch so einfach wie möglich ist. Ich wollte ein kurzes Buch machen, das für jeden zugänglich ist. Erstens, weil je größer es ist, desto mehr kostet es. Und vor allem ist es für Menschen, die nicht ans Lesen gewöhnt sind, schwer zu lesen. Was leider für viele Kongolesen der Fall ist. Schließlich denke ich, dass ein Buch effektiver ist, wenn es prägnant ist. Ich wollte, wie Sie schon sagten, auf den Punkt kommen. Schließlich ist die Prägnanz eine Disziplin, die ich mir selbst auferlege, weil es mir leicht genug fällt, zu schreiben. Wenn es einfach ist, lässt man sich gehen, man füllt die Seiten. Ich bin also ein bisschen vorsichtig mit mir selbst. Damit meine ich, dass ich einen lyrischen Schreibstil habe, der nicht gut zu dem Anliegen dieses Buches passt, das für mich eine Pflicht zur Erinnerung ist.

Übersetzung: Urielle Chrystal Kalala

 


 

Nachtrag: Ein weiterer Roman L’or des femmes (wörtlich übersetzt „Das Gold der Frauen“) erschien 2016 bei Gallimard, Paris

Der Nachdruck des Interviews aus africultures 2001 erfolgt mit freundlicher Genehmigung.