„Rassismus fängt mit der Unsichtbarkeit an und mit der Verleugnung unserer Geschichte"

Ein Gespräch mit dem Journalisten und Aktivisten Emanuel Matondo

Emanuel Matondo

Bürgerrechtler, Journalist

Emanuel Matondo

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Anlässlich des 25. Jubiläums des Africa Alive Festivals im Jahr 2018 hatten wir unter dem Titel „Menschenrechte für alle, ohne Grenzen“ zu einem ganztägigen „Tag für Menschenrechte“ mit afrikanischen und europäischen Aktivisten und Aktivistinnen ins Haus am Dom in Frankfurt am Main eingeladen. Zu Gast war auch der Journalist Emanuel Matondo. Der gebürtige Angolaner lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Er setzt sich für Menschenrechtsarbeit, gegen Rassismus und für die Rechte von Menschen afrikanischer Herkunft in Deutschland und Europa ein. „Seit 400 Jahren dauert dieser Rassismus“ an – für Matondo ist es wichtig, wie er in einem Papier schreibt, „die Stimme vernehmlich gegen fortdauernde Verbrechen von Rassendiskriminierung und -hass zu erheben“. Der Bezugsrahmen dafür, davon zeigt er sich überzeugt, könnten die Dokumente der World Conference against Raciscm, Racial Discrimination, Xenophobie and Related Intolerance sein, die im Jahr 2011 in der südafrikanischen Stadt Durban stattfand. Wichtige Impulse könnte auch die Internationale UN-Dekade der Menschen afrikanischer Abstammung (1. Januar 2015 bis zum 31. Dezember 2014) liefern,
wenn man sie breiter diskutieren würde. Es sei an der Zeit, dass die acht sklavenhaltenden Nationen, darunter auch Deutschland, ihre Kolonialgeschichte endlich aufarbeiteten, Abwehrmuster überwänden und eine neue Kultur des Erinnerns schüfen.

Wir sprachen mit ihm in Frankfurt über das Erbe des deutschen Kolonialismus, die Frage der Entschädigung für Länder, die unter der Sklaverei litten, die Anerkennung von Schuld und die Kraft der Musik afrikanisches Ursprungs, die er als er als La Magia del Ritmo Negro bezeichnet.

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Cornelia Wilß: Hierzulande hört man nicht selten das Argument, dass Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Staaten kein Sklavenhalterstaat war. Faktisch ist es so, dass das deutsche Kolonialreich Teile der heutigen Staaten Burundi, Ruanda, Tansania, Namibia, Kamerun, Gabun, Republik Kongo, Zentralafrikanische Republik, Tschad, Nigeria, Togo, Ghana, Neuguinea und mehrere Inseln im Westpazifik und Mikronesien umfasste und im Wettlauf um die Ressourcen mit anderen Kolonialländern eine aktive und aggressive Kolonialpolitik in den sogenannten „Schutzgebieten“ betrieb. Herr Matondo, was sagen Sie Leuten, die die Kolonialgeschichte Deutschlands kleinreden?

Emanuel Matondo: Ich glaube, es ist einfach eine verbreitete Haltung, die von Ignoranz zeugt. Auch wenn manche Leute in Deutschland behaupten, dass deutsche Kolonialisten nichts mit der Sklaverei zu schaffen hatten, weil Deutschland erst am Ende des 19. Jahrhunderts eine Kolonialmacht wurde, ist dies schlichtweg falsch. Wenn wir zum Beispiel die deutschen Eliten in den Blick nehmen, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Bereits die Fugger und Welser aus Augsburg finanzierten im frühen 17. Jahrhundert den portugiesischen Sklavenhandel. Die Welser erwarben Anteile an Sklavenplantagen im heutigen Venezuela. Man weiß heute, dass der Große Kurfürst die Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie (BAC) im Jahr 1682 in Berlin gründete. Seinem Befehl folgend sollte der preußische Adlige Otto Friedrich von der Groeben einen Stützpunkt für den Ausbau des Sklavenhandels finden. So entstand die Festung Groß-Friedrichsburg an der heutigen Küste Ghanas. Sie diente der Compagnie von 1683 bis 1717 als wichtiger Umschlagplatz für Sklaven. Was gerade die portugiesischen Sklavenhändler den Menschen in Afrika angetan hatten, lässt sich aus den vielen Geschichten über ihre Gräueltaten im damaligen Königreich Kongo (heute Teile von Angola, DR Kongo, Republik Kongo und Gabun) dokumentieren. Die schlimmen Folgen können die Menschen in diesen Ländern bis heute noch spüren. Die Sklaverei und der Kolonialismus haben die Menschen traumatisiert.

SCHULD UND ENTSCHÄDIGUNG

Vielen ist auch nicht bekannt, dass der Kurfürst einen zweiten Stützpunkt in der Karibik, auf der Insel St. Thomas, errichten ließ, die damals unter dänischer Herrschaft stand. Es gibt Schätzungen, die davon ausgehen, dass von den etwa zehn bis zwölf Millionen Menschen, die im Sklavenhandel zwischen 1519 und 1867 verkauft wurden, etwa 80 Prozent auf die Plantagen und in die Minen auf den Karibischen Inseln, in Brasilien und in den Südstaaten der späteren Vereinigten Staaten kamen und dort Zwangsarbeit verrichten mussten. Andere landeten, was kaum bekannt ist, im kaiserlichen Deutschland, wo ihre Arbeitskraft ausgebeutet wurde. Auch in der Zeit nach der Abschaffung der Sklaverei durften die früheren Sklaven aus Afrika und Menschen mit schwarzer Hautfarbe meistens nur bestimmte Arbeiten niedrigen Niveaus erledigen. Damals war das Alltagsleben dieser Menschen aus Afrika und später das ihrer Nachkommen von Rassismus, Diskriminierung und Herabwürdigungen geprägt, was in ihren Petitionen an die Politiker aus diesen vergangenen Jahren festgehalten wurde. Dieser Hass gegen Menschen afrikanischer Abstammung erreichte seinen Höhepunkt in jener Zeit, als Afrikanerinnen und Afrikaner in Zoologischen Gärten Europas, auch zum Beispiel im Berliner Zoo, und Nordamerikas wie exotische Tiere ausgestellt wurden und dieser Akt der Menschenverachtung auch noch als „die berühmteste Weltausstellung“ überallhin verkauft wurden.

Der Schwarze Mensch aus Afrika wurde als „Tier“ herabgestuft, und später zu erklärte man ihn gar zum „Unmensch“. Über all diese Dinge müssen wir sprechen, die europäische Geschichtsschreibung de-konstruieren und die Narrative völlig neu erzählen.

Im Zusammenhang der Aufarbeitung des kolonialen Unrechts kommt immer wieder die Frage nach Entschädigung auf. Was müsste Ihrer Meinung nach geschehen?

Die Karibische Gemeinschaft, CARICOM, fordert von den Regierungen Großbritanniens, Spaniens, Frankreichs, Portugals und den Niederlanden eine angemessene Entschädigung für die Sklaverei und den Völkermord an der ursprünglich dort lebenden Bevölkerung Amerikas. CARICOM hat im Jahr 2014 ein „Programm für Entschädigungsgerechtigkeit in der Karibik“ verabschiedet, das für die ehemaligen Sklavenkolonien eine „umfassende, komplette und formale Entschädigung“ verlangt. Das Komitee, das die Arbeit einer sogenannten CARICOM-Reparationskommission überwachen soll, setzt sich aus Trinidad und Tobago, Guyana, Haiti, St. Vincent und die Grenadinen sowie Surinam, den Vorsitzenden der nationalen Reparationskomitees und einem Vertreter der University of the West Indies (Jamaika) zusammen. In Afrika findet die Forderung nach Reparationen allerdings kaum Gehör.

Warum nicht?

In offiziellen oder akademischen Kreisen, in den Zivilgesellschaften und auch in der Bevölkerung wird diese Frage der Entschädigung nicht diskutiert. Mit einer Ausnahme: Die erste panafrikanische Konferenz über „Reparationen für die Versklavung, die Kolonisierung und die afrikanische Neokolonisierung“ unter der Leitung des nigerianischen Politikers Moshood Abiola fand vom 27. bis 29. April 1993 in Abuja (Nigeria) statt; sie wurde vom Independent Committee of Eminent Persons (ICEP) und von der Reparationskommission der Organisation für Afrikanische Einheit unterstützt.

The Abuja Proclamation

A declaration of the first Abuja Pan-African Conference on Reparations For African Enslavement, Colonization And Neo-Colonization, sponsored by The Organization Of African Unity and its Reparations Commission April 27-29, 1993, Abuja, Nigeria

Calls upon the international community to recognize that there is a unique and unprecedented moral debt owed to the African peoples which has Yet to be paid – the debt of compensation to the Africans as the most humiliated and exploited people of the last four centuries of modern history […]

Convinced that the issue of reparations is an important question requiring the united action of Africa and its Diaspora and worthy of the active support of the rest of the international community. Fully persuaded that the damage sustained by the African peoples is not a „thing of the past‘ but is Painfully manifest in the damaged lives of contemporary Africans from Harlem to Harare, in the damaged economies of the Black World from Guinea to Guyana, from Somalia to Surinam. […]

Calls upon the countries largely characterized as profiteers from the slave trade to support proper and reasonable representation of African peoples in the Political and economic areas of the highest decision-making bodies.

Nachlesen

Moshood Abiola hatte die Präsidentschaftswahlen 1993 in demokratisch freien Wahlen gewonnen und als Freidenker wollte er wirklich die Forderung nach Reparationszahlungen auch durchsetzen. Dem lag zwar kein offizieller Akt der nigerianischen Regierung zugrunde, doch die Forderung von 777 Billionen US-Dollar stand im Raum. Zahlen sollten diese Entschädigung Europa, die USA und auch die arabischen Länder, die sich am Sklavenhandel beteiligt hatten. Aber die Präsidentschaftswahl wurde annuliert, Abiola landete im Gefängnis und starb unter mysteriösen Umständen

Wie errechnet sich diese Summe und wie waren die Reaktionen?

Im Spätsommer 1999 benannte die African World Reparations and Repatriations Truth Commission erstmals eine konkrete Summe für den wiedergutzumachenden Schaden. Ob man die Zahl albern findet oder nicht, sie taugt auf jeden Fall als Beleg für die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens, um das es geht. Doch Leute wie Abiola haben sich im Westen damit keine Freunde gemacht. Man munkelt, dass Abiola auch deshalb aus dem Weg geräumt wurde. Das haben wir auch nochmal beobachtet, als der frühere Premierminister von Barbados, Freundel Stuart, ankündigte, eine solche Forderung zu stellen, die sich in diesem Fall an Großbritannien richtet, weil es durchaus bewiesen ist, dass das British Empire, einen Teil seines Reichtums der Sklaverei verdankt. Doch der Premier wurde unter Druck gesetzt, auch wirtschaftlich, was man auch als Einschüchterung ansehen könnte oder kann. Großbritannien zum Beispiel weigert sich auch in dieser Frage, diese Schuld anzuerkennen und Buße zu tun.

Buße tun? Der Begriff der Buße ist religiös geprägt. Geht es um das Anerkennen von Schuld?

Genau darum geht es: Schuld anzuerkennen. Es ist überfällig, dass Europa und Australien, Südafrika und viele Länder Lateinamerikas wie Brasilien und Argentinien und Kanada, und natürlich Nordamerika, ein Schulbekenntnis ablegen müssen. Es wird so getan, als wäre das ein einmaliges historisches Delikt gewesen, aber es geht um viel mehr.

Ich habe mich viel auf meinen Reisen mit Leuten in Lateinamerika ausgetauscht, mit Leuten in den USA, in Asien und so weiter. Die Verbrechen des Kolonialismus werden einfach von offizieller Seite verschwiegen. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben!

Die Jesuiten waren am Sklavenhandel beteiligt. Sie bevorzugten Sklaven aus der Kongo-Angola Region, die galten als stark und kräftig. Außerdem brachten die Sklaven von dort eine Reihe von Techniken mit, welche zum Beispiel für die Ausbeutung der Ressourcen Amerikas notwendig waren, etwa in der Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei aber insbesondere im Metallabbau und der Metallverarbeitung etc. Das waren also Sklaven aus unseren Ländern im Kongobecken, vielmehr aus „meinem“ Königreich Kongo. Bei meinen Recherchen bekam ich den Hinweis, die Archive der Bibliothek in Cartagena de Indias in Kolumbien und in Mexiko auszuwerten. Ich war überrascht. Manche Kathedralen, die in Lateinamerika erbaut wurden, sind mit Sklavenarbeit errichtet worden. Und wer waren dann die Sklavenhalter? Die Jesuiten unter anderen… Die Jesuiten hatten sogar ihre Außenhandelsposten im heutigen Angola gehabt und im damaligen Königreich Kongo. Sie befehligten, Menschen zu jagen, zu entführen und in Zusammenarbeit mit portugiesischen Sklavenhändlern, bekannt als „encomenderos de negros“, deportierten sie die Gefangenen nach Amerika. Überwiegend nach Mexiko, Ekuador, Argentinien und nach Mittel- und Südamerika zum Beispiel. Und auch in die USA. Über diese Geschichte der Jesuiten als Sklavenhändler oder brutale Sklavenhalter könnte man mehrbändige Horrorbücher schreiben.

Und ich möchte noch anfügen: Einige der Konflikte, die bis heute in Afrika überdauern, sind aus den Zeiten, als die großen Sklavenhändlernationen Europas destabilisierende Kriege auf dem afrikanischen Kontinent anstifteten, um Entführungen und Verschleppungen von Afrikanerinnen und Afrikaner für ihre Verschiffung nach Amerika leichter zu machen. Von diesem dunklem Kapitel seiner Geschichte haben sich sowohl Afrika als auch die Karibik nie erholt. Die Kritik über die Rolle des Kapitalismus als „Architekt des Rassismus“ und Hauptmotor für die Versklavung sollte nicht einfach als „Radikalismus“ von Möchtegern-Weltverbessern abgetan werden. Wir müssen einen ehrlichen Dialog über diese dunklere Vergangenheit unsere gemeinsame Geschichte führen. Nur so können wir gemeinsam die Wunden dieser Barbarei heilen.

UNTERDRÜCKTE ERZÄHLUNGEN DES WIDERSTANDS

Wo stehen wir heute? Sehen Sie eine direkte Verbindung zwischen dem Kolonialismus und dem Rassismus?

Ich glaube, seit der Sklaverei bis heute hat sich eine Kultur der Dominanz fortgesetzt. Nach der Abschaffung des Sklavenhandels hat die Herrenrasse, die wir heute als „White Supremacy“ bezeichnen, den Rassismus erfunden, um faktisch diese Dominanz ausüben zu können, sich über andere Menschen zu erheben. Die europäische und entstandene „neo-europäische“ Kulturen wurden dann als höher und als „entwickelter“ dargestellt, während die afrikanischen Kulturen und die der ursprünglichen Bevölkerung Amerikas als „primitiv“ und als „unterentwickelt“ diffamiert wurden. Dieser Rassismus hat überlebt, weil Mythen transportiert wurden und auch Vorurteile sowie Stereotype. Wir wissen doch, dass die Geschichtsbücher nicht aus der Sicht der Anderen geschrieben wurden, sondern aus der Perspektive von weißen Menschen, die ihre Überlegenheit damit zementierten.

Bis heute denken viele Menschen, dass Schwarze Menschen faul sind. Aber diese Leute wissen nicht, dass das Verlangsamen des Arbeitstempos durch versklavte Menschen Afrikas ein Akt des Widerstands war. Während der Sklaverei haben sich viele Schwarze Afrikaner und Afrikanerinnen nicht ihrem Schicksal ergeben. Sie wählten Formen des gewaltfreien Widerstandes neben Rebellionen und Aufständen, was wir auch unter dem Begriff Cimarronaje kennen, um sich dem zutiefst ungerechten und ausbeuterischen Kolonialsystem zu entziehen. Sie schufen dann ihre eigenen freien Bereiche, manchmal an versteckten Orten und abgelegenen Stellen. Damit richteten die Sklaven großen wirtschaftlichen Schaden an, eine wohl in den meisten europäischen Geschichtsbüchern unterdrückte Erzählung des Widerstands. Die Sklavenhalter und die Sklavenhändler haben daraus, wie schon erwähnt, das Stereotyp entwickelt und verbreitet, dass die Sklavenmenschen, die Menschen aus Afrika, faul seien. Das rein rassistische Stereotyp aus dunkleren Zeiten der Sklaverei klebt man Menschen afrikanischer Abstammung bis heute auf, und zwar überall auf der Welt. Gerade bei vielen Personalern, im Laufe von Bewerbungsverfahren zur Besetzung von Arbeitsstellen, läuft dieses Stereotyp wie ein schlechter Film in ihren Köpfen ab, so dass sie sich oft letztlich gegen die Einstellung von Menschen afrikanischer Abstammung entscheiden, meisten ohne plausible Begründungen, meiner Meinung nach.

LA MAGIA DEL RITMO NEGRO

Sie beschäftigen sich in den letzten Jahren verstärkt mit Musik als kulturellem Erbe Afrikas?

Ich arbeite gerade an einem Buch über La Magia del Ritmo Negro. Denn es bedarf der Aufklärung. In einem Kapitel meines Werkes versuche ich zu zeigen, wie zum Beispiel die Popkultur entstand und woher Reggae, Rumba oder Milonga usw. stammten. Oder die Rock’n’Roll Musik. Die Rock’n’Roll Musik schöpft einen Großteil ihres Ursprung aus diesem kulturellen Erbe Afrikas. Und Jazz Musik, das ist Schwarze Musik. Der Blues, zum Beispiel, ist mit seinen Klängen vielen Melodien aus meiner Region aber auch aus manchen Regionen Westafrikas sehr ähnlich wie auch der Brass Band March, der an unsere Musik bei Beerdigungs-Ritualen erinnert. Das wohl bekannteste Lied La Bamba ist ein mexikanisches Volkslied, das ursprünglich von streikenden Sklaven im Jahr 1683 in der Stadt Veracruz, Hafenarbeitern aus dem damaligen Königreich Kongo komponiert wurde. Es ist eine tolle Geschichte aus dem 17. Jahrhundert. Inzwischen gilt La Bamba fast als mexikanische Nationalhymne und ist bis nach Hollywood gekommen und ist der Titel eines gleichnamigen Films. La Bamba begeistert Menschen weltweit. Die Reggae Musik zum Beispiel hat ihre Ursprünge teilweise in der Kongo-Angola-Region, aber auch in West- und Ostafrika. Gerade meine Sprache, die Kikongo Sprache, hat viel zur Entwicklung der ersten Kompositionen beigetragen. Eine US-amerikanische Historikerin kam zu dem Schluss, dass unsere Kultur und unser musikalisches Erbe einen großen Beitrag zum Weltkulturerbe geleistet haben.

un.org/en/observances/decade-people-african-descent/slave-trade

Wie kann diese Aufklärungsarbeit vorangetrieben werden? Die Dekade der Menschen afrikanischer Abstammung, wie sie von den Vereinten Nationen verkündigt wurde, ist ein symbolischer Akt. Was muss konkret geschehen?

Es sollte mit Anerkennung anfangen. Anerkennung unseres Beitrages für die Weltkultur und Anerkennung dafür, dass Menschen aus Afrika beispielweise Amerika mit aufgebaut haben, auch unter Einsatz ihrer Knowhows. Wir haben doch dazu beigetragen, dass heute England so materiell reich und industriell ist, wie es ist. Das sagte ich bereits. Oder Europa oder die USA oder Brasilien oder ganz Süd- oder Mittelamerika. Überall. Von den Sklaven und Sklavinnen, die nach Mexiko verschleppt wurden oder importiert wurden, kamen 80 Prozent aus meiner Region, der Kongo-Angola Region. Sie haben in den Ländern, in die sie auf so grausame Weise verschleppt wurden, die Kulturen und Künste beeinflusst.  Es gibt keine reinen Kulturen. Die Annahme, es gäbe eine reine westliche Kultur, ist eine Anmaßung. Es gibt keine westliche Kultur. Das ist größte Lüge.  Die Kultur Europas ist jüdisch-christlich und auch von Kulturen aus Ländern geprägt, die wir Orient nennen.

Die Kulturen haben sich immer vermischt. Schauen Sie sich doch die amerikanische Kultur an. In Alabama, in New Orleans. Manchmal dachte ich, als ich dort Musik hörte, ich stünde im Dorf meiner Mutter, weil ich die Klänge der Musik wiedererkannte. Ich habe mit Leuten aus Cartagena de Indias gesprochen, die sagten mir, Bullerengue colombiano, das ist doch eure Musik immer noch. Komm zu uns, dann wirst du deine Leute finden. Ich habe mit Leuten aus Argentinien gesprochen, ich habe so viele Einladungen auf meinem Tisch liegen, Cornelia, aus Ecuador, aus Argentinien, aus Cordoba, aus Buenos Aires. Ein Wissenschaftler aus Buenos Aires und Cordoba schrieb mir einmal in der Pandemiehochsaison 2020, ja komm einfach nach Argentinien. Deine Familie wartet auf dich.

MEINE IDENTITÄT / WELTIDENTITÄT

Welche Rolle spielt die Vorstellung von einer Identität. Ist es hilfreich, von afrikanischer Identität oder von schwarzer Identität zu sprechen? Im Moment wird ja viel über Identitätspolitik geredet und gestritten.

Ich identifiziere mich schon als Schwarzer Mensch. Ja. Aber dieser Mensch ist nicht mehr so, wie es seine Vor-Vorfahren im mächtigen Königreich Kongo einst waren. Als die Portugiesen kamen und mit ihnen die Jesuiten, die Dominikaner, die Kapuziner und die Missionierung in Angriff genommen wurde, wurden meine Ahnen zwangsgetauft. Die „Primitiven“ in den neuen Kolonien Afrikas sollten mit dem Schwert zum Christentum bekehrt werden. Das hat unsere Identität für immer verändert Ich bekenne mich zu meinem afrikanischen Erbe, aber ich bin nicht mehr der Matondo, der wie einst sein Vorfahre lebte. Die Sklaverei und der Kolonialismus haben vieles bei und in uns zerstört. Deshalb trage ich auch keinen afrikanischen Namen. Die Getauften mussten ihre alten Namen aufgeben und europäische annehmen. Das war Gesetz und blieb bis heute so. Von den afrikanischen Eigennamen ist nichts mehr übrig, etwa in Angola. In meiner Familie war das anders. Wir wollten unsere Namen nicht komplett aufgeben und haben Matondo beibehalten.

Wer bin ich? Ich lebe seit langem in Deutschland, meine Kinder sind hier geboren. Sie kennen den afrikanischen Kontinent meist nur aus den Erzählungen ihrer Eltern. Ich versuche mit ihnen darüber zu sprechen, dass sie ein afrikanisches Erbe in sich tragen, aber ihre Sozialisation findet hier statt.

Über Identität zu sprechen, ist eine komplizierte Sache. Ich verstehe Identität nicht als eine geografische Festlegung, woher ich komme, sondern als die Art und Weise, wie man denkt. Deshalb spreche ich lieber von einer „Weltidentität“, weil sich die unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen auch in den Biografien neu mischen. In vielen Regionen kann ich Menschen identifizieren, die blond sind, blaue Augen haben, aber biologisch gesehen Menschen afrikanischer Abstammung sind. Wir müssen mit diesem Unsinn aufhören! Nur wenn wir die Tatsache anerkennen, dass es so etwas wie eine reine Kultur nicht gibt, werden wir Menschen afrikanischer Abstammung aus der Unsichtbarkeit holen können. Mit dieser Unsichtbarkeit und der Verleugnung unserer Geschichte fängt der Rassismus. Das müssen wir ändern. Darauf haben auch unsere Kinder ein Anrecht!

Das Gespräch führte Cornelia Wilß im Januar 2021.

Biografie

Emanuel Matondo has lived in Germany since the early 1990s. In 1998, he co-founded the Angolan Anti-Militarism Initiative for Human Rights (IAADH) where his responsibilities include research and public relations, lobbying, advocacy and actions to promote peace. He also led advocacy work aimed at achieving a peaceful resolution of the Angolan civil war with the Belgian government and EU Presidency, the European Commission and the Swiss government. While involved in these activities, he acted as a policy adviser on peace issues to the leaders of Angola’s major churches, as member of the ecumenical team behind the internal mediation between both warring parties between 2001 and 2002 (to promote an immediate cease-fire as well as a peaceful and inclusive conflict resolution). From 2002 to 2005, he was a Council member of the London-based organisation War Resisters‘ International (WRI). For several years, he also served as spokesman of Dritte Welt JournalistInnen Netz (Third World Journalists‘ Network), as well as being actively involved in the organising committee of the Deutscher Evangelischer Kirchentag (German Protestant Church Convention) contributing e.g. to the Africa Forum) and the First Ecumenical Convention which took place in Berlin in 2003. Emanuel is foreign correspondent for the independent private Angolan weekly „Folha 8“. From 2011 to 2018, he has also worked as an editor for afrika süd, a German magazine about Southern Africa. Since the end 2012, he has acted as consultant to the recently established „University of Peace in Africa/Université de Paix – Afrique“ (UPAIX) in Kinshasa, Democratic Republic of the Congo, where, in 2013, he gave a number of special seminars on „Disarmament, Arms Control and Mechanisms to Counter the Proliferation of Small Arms in the Great Lakes Region“. He also acts as a consultant to several other international organisations and institutions. Emanuel’s extensive list of publications deals in particular with the issues of human rights, refugees and migrants, arms exports, civilian peacebuilding, mining and social rights as well as corruption. He is an expert on the UN Human Rights Council’s Universal Periodic Review (known as the „UPR“ mechanism) and advises NGOs/institutions/groups on it.

Maestro Sam Mangwana – "El Diablo del Ritmo"

Emanuel Matondo arbeitet aktuell an einem Buch über das Lebenswerk des weltbekannten Musikers, Sängers und Komponisten Sam Mangwana, bekannt auch als der „Prinz der Rumba Congolaise“. Als wir im März über das Projekt sprechen, ist Matondo gerade dabei, das Konzept des Buches auszuarbeiten und 200 Songtexte aus einer Auswahl von über 400 veröffentlichten Liedern zu formatieren. Das Werk soll im nächsten Jahr erscheinen. 2022 wird der Künstler Sam Mangwana genau sechzig Jahre seiner langen, intensiven Musikkarriere feiern. So sei das Buch auch einer „lebenden Legende“ gewidmet, sagt Matondo, die nicht nur das Musikgenre „Rumba Congolaise“ zu panafrikanischer Berühmtheit verholfen, sondern in der ganzen Welt bekannt gemacht hat. Von angolanischen Eltern aus der Nordprovinz Uíge abstammend wurde Sam Mangwana in Léopoldville (heute Kinshasa) 1945 geboren, der Hauptstadt der heutigen Demokratischen Republik Kongo.

Foto: © Emanuel Matondo

Er hat Lieder in fast allen großen afrikanischen Sprachen komponiert und gesungen, etwa 17 Sprachen, Lingala, Kikongo, Swahili, Duala, Bambara, usw. Außerdem singt und komponiert er auch in Französisch, Spanisch, Englisch und Portugiesisch. „So erscheint das Buch zu einem sehr guten Zeitpunkt, wenn Sam mit uns gemeinsam die erfolgreichen Momente seines Musikerlebens zelebrieren kann.“ Das Buch sei ein Anfang, sagt Matondo, „denn wir beabsichtigen, sein gesamtes Werk, mit dem er unser Leben musikalisch mit den besten Melodien und Klängen mit Glück erfüllte, als kulturelles Erbe für die kommenden Generationen in Partituren zusammenzufassen. Ich hoffe, dass uns das gelingen wird und wir gute Partnerschaften zur Umsetzung dieses gemeinsamen Projektes finden können.“