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Eine Hommage an den südafrikanischen Autor Phaswane Mpe

Phaswane Mpe

Dichter, Schriftsteller

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Von Vera Thümmel

Als Phaswane Mpe auf Einladung zum Africa Alive Festival im Januar 2002 zu uns nach Frankfurt am Main kam, war er 32 Jahre alt, ein junger Mann mit großen braunen Augen und einem offenen herzlichen Blick. Erst ein Jahr zuvor, 2001, war sein erster Roman Welcome to Our Hillbrow herausgekommen. Auf unserem Festival gestaltete er eine Lesung zu seinem neuen Buch und nahm als Referent bei einer Podiumsdiskussion teil.

Mpe kam aus Südafrika, einem Land, in dem vor über zehn Jahren der African National Congress (ANC) offiziell das Ende der Apartheid erzwungen hatte, jedoch für viele schwarze Südafrikaner und Südafrikanerinnen eine neue, gerechte, demokratische Gesellschaft noch weit entfernt schien. Ich kam aus der ehemaligen DDR und lebte seit vier Jahren in Frankfurt am Main.

Wir hatten eines gemeinsam: Wir hatten beide große Umbruchzeiten in den 90 Jahren erlebt.

In dieser Zeit des Umbruchs tauchte in Südafrika immer wieder die Frage auf, wo ist der literarische Versuch, diese neue Wirklichkeit darzustellen? So wie in der damaligen deutsch-deutschen Debatte gefragt wurde: Wo ist das literarische Werk, das sich dem vereinten Deutschland annähert?

Wir saßen in der Küche bei warmem Essen und Tee und führten ein langes Gespräch, es war der 30. Januar 2002. Einen Teil unseres Gesprächs nahm ich auf. Ich lernte Phaswane Mpe als einen bescheidenen und ernsthaften Menschen kennen. Er bestach durch seinen analytischen und differenzierenden Blick, sein zaghaftes Lächeln.

Unser Gespräch kreiste um die Parallelitäten der Situation nach dem Ende der Apartheid und dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems sowie um die Frage der Gestaltung einer neuen demokratischen Weltordnung nach dem Ende des Kalten Krieges und der bipolaren Weltordnung.

Welche Erfahrungen könnte Afrika darin einbringen, speziell Südafrika mit seinen Erfahrungen aus der Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Committee)? Wie sollte dieser neue Dialog geführt werden?

Phaswane Mpe: „Ein neuer Dialog ist auf jeden Fall notwendig. Aber es ist nicht so einfach zu sagen, wer an diesem Dialog teilnehmen sollte und welche Rolle die einzelnen Teilnehmer haben werden. Es sollte z. B. die UNO als Vermittler eingeschaltet werden, das wäre eine große Unterstützung. Wir haben die Erfahrung in Südafrika gemacht, wenn politische Gruppen untereinander einen Konflikt haben, dann ist es wichtig, jemanden als Vermittler zu gewinnen, der nicht zu einer dieser Gruppen gehört. Sonst passiert es, dass die Gruppen sich gegenseitig ausspielen. Die UNO müsste eine wichtige Rolle hierbei spielen. Obwohl es da ein Problem gibt. Wenn immer die UNO aufruft, sich nicht in einen Konflikt einzumischen, so sagen die USA, sie entscheiden selbst, was sie tun.“

Mpe war ein sehr aufmerksamer Zuhörer. Er stellte sich all meinen Fragen, wählte seine Worte sehr genau und beschönigte nichts in seinen Antworten. Sein unglaubliches Interesse an politischen und sozialen Fragen und an gesellschaftlichem Engagement sollte sein Leben noch radikal verändern, wenn auch nur für kurze Zeit, aber das sollte ich erst später erfahren.

Phaswane Mpe wurde 1970 in der nördlichen Provinz von Südafrika geboren, in der Stadt Polokwane. Er wuchs dort auf, seine Muttersprache ist Sepedi. 1989, ein Jahr vor der Freilassung von Nelson Mandela, zog er nach Johannesburg, um dort Afrikanische Literatur an der University of Witwatersrand zu studieren, die erst seit kurzem schwarze Studenten und Studentinnen zuließ.

Auf der Suche nach einem günstigen Wohnort als Student zog er nach Hillbrow, einem zentralen Viertel von Johannesburg. In diesen modernen Hochhausschluchten lebten neben Studenten, alleinerziehenden Mütter, gemischten Paaren (die sich hier dem Gesetz entzogen, das Sex zwischen den „Rassen“ im Apartheidstaat verbot) auch viele Einwanderer afrikanischer und auch osteuropäischer Herkunft. Ein Stadtteil, der eine Legende ist, weil er der erste Stadtteil in Johannesburg war, in dem schwarze Afrikaner und Afrikanerinnen mehr oder weniger gleichberechtigt neben Weißen leben konnten.

In seinem genau in dieser Zeit angesiedelten Roman Welcome to Our Hillbrow geht es auf beeindruckende Weise um all diese Brüche und Veränderungen, die sich in der neuen südafrikanischen Wirklichkeit der 90er, vor allem in den Städten, im ersten Jahrzehnt nach der Apartheid abspielten: die Suche nach Identität der schwarzen Südafrikaner und Südafrikanerinnen nach der Überwindung der „Rassentrennung“, erschwert durch eine starke Einwanderung aus den Nachbarländern. Nicht wenige der Migranten waren besser ausgebildet.

SOUTH AFRICAN'S REALITIES

Phaswane Mpe gehörte zur Generation, die sich trotz harter Entbehrungen und Unterdrückung durch die Apartheid durchgekämpft hatte. Doch anstatt sich der langersehnten Freiheit und Gleichberechtigung erfreuen zu können, trafen die meisten seiner Generation auf neue soziale und ökonomische Missstände: den Anstieg von Arbeitslosigkeit und massiver Armut begleitet von Kriminalität, Drogen und HIV/Aids.

Diese bisher unbekannte Krankheit traf Südafrika besonders schwer. Vergleichbar mit der aktuellen Corona-Pandemie verbreitete sie Angst und trug zur weiteren Abwertung von Migranten bei. Einwanderer wurden damals in Südafrika nicht nur für soziale Missstände verantwortlich gemacht, sondern vor allem auch für die Ursache und Verbreitung dieser Krankheit. Unzählige Menschen erkrankten und starben daran.

An diesem Roman, der einer der ersten ist, der aus der Feder eines schwarzen südafrikanischen Autors nach dem Ende der Apartheid stammt, ist hervorzuheben, dass die Protagonisten einfache junge schwarze Südafrikanerinnen und Südafrikaner sind, die aus den ländlichen Gebieten nach Hillbrow zogen. Es ist die Geschichte eines Einzelnen, im Rückblick, eines jungen Mannes, der in die Stadt Johannesburg in das Viertel Hillbrow zieht, um hier zu studieren. Er verliebt sich, wird betrogen, betrügt; es geschehen Verbrechen und er begeht Selbstmord. Es ist das Schicksal von Refentše, und damit auch gleichzeitig die Geschichte von vielen von Uns, von Unserem Hillbrow – Welcome to Our Hillbrow. Das Buch ist in Englisch geschrieben, aber die südafrikanische Sprache Sepedi hat hier eine besondere Bedeutung: Der Name des bereits verstorbenen, aber doch dominierenden Helden Refentše bedeutet im Sepedi: „Wir haben gesiegt“. Die beiden Frauen, die im Leben von Refentše eine wichtige Rolle spielen, heißen übersetzt aus dem Sepedi: „Lerato“ – Liebe, und, „Refilwe“ – Geschenk. Der Roman hat ein sehr eigenes Tempo und einen speziellen Humor. Das Besondere daran ist, dass er eine schonungslose Kritik an den herrschenden Auffassungen darstellt, was als politisch korrekt im Südafrika der 90er Jahre galt. Er ist eine scharfe Kritik an der wachsenden Xenophobie, der Ablehnung von Einwanderern, den Makwerekwere, die Südafrika als ein Ersatzparadies betrachteten, weil in andern Staaten Afrikas die Lebensverhältnisse oft viel schlechter waren.

Vor dem Roman, erzählte Mpe, hatte er bereits Kurzgeschichten und Gedichte geschrieben, aber nur einige waren bisher erschienen.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, den Roman als eine Abfolge von Kurzgeschichten zu schreiben? – fragte ich ihn.

Phaswane Mpe antwortete:

„Ich hatte einige Kurzgeschichten 1997 geschrieben, die ich ins Sepedi übersetzt hatte, aber ich stellte fest, dass es da noch Dinge gab, über die ich noch nicht genügend gesprochen hatte. So widmete ich mich also diesen Dingen. So schrieb ich 1998 eine Sammlung von Gedichten. Dann stellte ich fest, dass ich immer noch nicht genug gesagt hatte […] Ich saß also damals in meinem Büro an der Universität, um eine akademische Arbeit abzuschließen, und ich war so depressiv, dass ich einen Freund anrief, dem ich sagte: Ich wollte Dir nur mitteilen, dass ich gleich Selbstmord begehen werde. ,Mein Freund sagte, ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist oder nicht, aber wenn Du entschieden hast, es zu tun, dann bitte, gib mir die Möglichkeit noch ein letztes Bier mit Dir zu trinken‘. So wartete ich also auf die Möglichkeit, ein letztes Bier zu trinken und mich mit ihm zu unterhalten. Danach wurde mir klar, dass das ein gutes Zeichen von ihm gewesen war, mir diese Chance zu geben, mit ihm zu sprechen. Ich überdachte mein Leben, setzte mich also hin, morgens um 9 Uhr, und schrieb in 18 Stunden Dreiviertel meines Romans. Dann in den fünf folgenden Wochen schrieb ich den Rest des Romans. So entstand der Roman, ich hatte keinen Plan vorher. Aber ich übernahm einige Charaktere aus den Kurzgeschichten, die ich vorher geschrieben hatte.“

EINE NEUE LITERARISCHE STIMME

Dieser Roman, den er 1999 in dieser beeindruckend kurzen Zeit geschrieben hatte, wurde 2001 publiziert und machte den erst 30 Jahre alten Phaswane Mpe über Nacht berühmt. In allen Medien Südafrikas wurde er als eine neue junge Stimme gefeiert, die eine neue Ära in der südafrikanischen Literatur einleiten sollte. Ehrlich und schonungslos blickte er auf seine Wirklichkeit.

Bevor er diesen Roman schrieb, war er nach seinem Studium der Grundlagen des Verlagswesens an der Oxford Brookes University und dem Studium für Literaturwissenschaft an der University of the Witwatersrand, bereits mehrere Jahre an dieser Universität tätig und lehrte an dieser Afrikanische Literatur. Er gehörte zu den ersten schwarzen Intellektuellen, die eine Stelle an der Uni und in anderen zivilgesellschaftlichen und politischen Institutionen einnehmen konnten und an der Gestaltung des demokratischen Prozesses aktiv teilnahmen.

Darüber hinaus veröffentlichte er regelmäßig Artikel in Zeitungen über Literatur, Kultur und Politik und nahm oft als Jurymitglied bei Literaturwettbewerben teil.

Mpe war sehr engagiert. Er hatte, so erzählte er mir, engen Kontakt zu seinen Studenten und Studentinnen an der Universität, beriet sie und führte mit ihnen sehr offene Diskussionen über die aktuellen politischen und sozialen Diskurse.

Ich frage ihn, ob er es als seine Aufgabe als Schriftsteller ansieht, sich in gesellschaftliche Prozesse einzumischen. Wäre es dann nicht interessanter, wäre er dann vielleicht sogar einflussreicher, sich als politischer Kommentator oder als Analytiker zu betätigen, um stärker am demokratischen Umgestaltungsprozess in Südafrika teilzunehmen?

Phaswane Mpe: „Wenn ich mich als politischer Kommentator betätigen würde, dann hat das nur mit Politik zu tun, das engt ein. Als Schriftsteller, der Romane, Gedichte oder Kurzgeschichten schreibt, kann ich nicht nur über politische Angelegenheiten schreiben, sondern über vieles andere mehr, so über Liebe und andere Dinge.“

Wir verabschiedeten uns mit einer herzlichen Umarmung. Ich war beeindruckt von seiner Energie und seinen vielen Aktivitäten. Er war kein lauter Mann, spielte sich nicht in den Vordergrund, obwohl er so viel zu sagen hatte. Ich war mir sicher, bald wieder Neues von ihm zu hören.

Erst später erfuhr ich, dass Phaswane Mpe seine 2003 begonnene Doktorarbeit abgebrochen hatte. Ich erfuhr, dass er an sporadischen Anfällen von Erkrankungen und an Albträumen gelitten hatte, deren Ursache die Ärzte nicht feststellen konnten.

Mpe konsultierte traditionelle Heiler und begann mit dem Studium der traditionellen südafrikanischen Heilkunde.

Es war die Zeit, der rasenden Ausbreitung von HIV und Aids in Südafrika, Tausende junge Menschen, auch Kinder starben. Weder die moderne europäische noch eine andere Medizin hatte bisher ein Mittel gegen diese schreckliche Krankheit gefunden.

Vielleicht hoffte er, seine Studenten und sein Land in dieser schmerzlichen Situation konkret zu unterstützen? Vielleicht widmete er sich deshalb dem Studium des traditionellen afrikanischen Glaubenskonzeptes, dem Wissen um den Zusammenhang von Mensch, Natur und Krankheit und der Bedeutung und Kraft der Ahnen und dem der afrikanischen Pflanzenkunde?

Am 12. Dezember 2004 starb Phaswane Mpe. Er war erst 34 Jahre alt, „einer der vielversprechendsten jungen Schriftsteller Südafrikas“. (Guardian, 22.12.2004) Die Todesursache ist unbekannt.

Ich sehe ihn noch heute vor mir: einen sehr warmherzigen, ehrlichen und inspirierenden Menschen, den der politische und soziale Strudel der gewaltigen Umbrüche der ersten Nachapartheiddekade hinweggerissen hat. Er ist jung gestorben wie sein Held, viel zu jung!

Posthum erhielt er den South African Literary Award (2007).

 


 

Nachtrag
Phaswane Mpe: Brooding Clouds, eine Sammlung seiner Kurzgeschichten, erschien nach seinem Tod 2008, hrsg. von University Of KwaZulu-Natal Press

Einer seiner Kurztexte erschien in der Anthologie TWENTY IN 20
The Best Short Stories Of South Africa`s 20 Years Of Democracy, 2014

Interessante Beiträge über Phaswane Mpe finden sich in:
The Past Coming to Roost in the Present
Historicising History in Four Post-Apartheid South African Novels , 2007
sowie: themantle.com/literature/welcome-our-world