Ray Lema und meine fernen Erinnerungen an Kin
Von Muepu Muamba
Als ich in den 70er Jahren in Kinshasa ankam, sprudelte die Stadt vor Hoffnung, Freude und Vitalität. Zu Beginn der 70er Jahre lastete die Angst vor Mobutu noch nicht so schwer in den Seelen der Menschen. Die jungen Leute waren überschäumend begeistert, am Aufbau eines riesigen und stolzen Landes im Herzen Afrikas teilzunehmen und dadurch das „Herz der Finsternis“ zu widerlegen, jenen Stempel der Barbarei und des Betrugs, den die „Zivilisation“ dieser Region aufgedrückt hat. Man konnte das Leben, die Träume und die leuchtende Hoffnung in der Tiefe der faszinierten Blicke sehen. In diesen Jahren, in dieser Atmosphäre der Herausforderung, lernte ich Ray Lema kennen. Er war einer jener jungen Leute, die sich nicht scheuten, das Unmögliche herauszufordern, die ungeduldig ihren Beitrag zum Aufbau des Fundaments von Kongo leisten wollten. Diese aufstrebende Nation, dieses große und spannende Projekt war ihr absoluter Traum, ihre Zukunft. Das Wort „Stamm“ gehörte nicht zu ihrem Wortschatz, ebenso wenig wie das Wort „Diktatur“.
Ray Lema hatte einen aufregenden Posten beim Nationalballett des Kongo ausgefüllt, der es ihm erlaubte, durch dieses riesige Land zu reisen, kreuz und quer, mit ihm zu träumen, mit dieser Nation, die noch immer nur ein Projekt war, gerade aus der Kolonisierung herausgekommen. Als musikalischer Direktor durchstreifte er das ganze Land und sog die Musiken und Melodien seiner Heimat in sich auf. Diese Erfahrung eines musikalischen Mosaiks des Kongo wird ihn den Rest seines Lebens begleiten. So versuchte er während seiner gesamten musikalischen Laufbahn, die Musik verschiedener Länder mit seiner eigenen Musik und der seines Herkunftslandes zu vermählen.
Aus den gleichen Gründen wie ich werden wir bald gezwungen worden sein, unser Land zu verlassen, gegen Ende der 70er Jahre: Die tausend Köpfe der Hydra der Diktatur tauchten überall auf. Ich traf dann Ray Lema in den 80er Jahren wieder, als ich nach Europa zurückkehrte, nach meinem schmerzhaften Versuch, in Westafrika ein Land des Asyls zu finden! Eine Initiationsreise, die es in sich hatte!
In der Zwischenzeit haben wir, Ray und ich, auf den Straßen der Welt gelernt, dass unser Land überall sein kann und wir zugleich mehrere Völker sind. Wir beteiligen uns auf diesem Kontinent an Solidaritätsaktionen, um andere Völker zu unterstützen.
In diesem Sinne luden wir 1992 Ray Lema und den sandinistischen Musiker Carlos Mejia Godoy aus Nicaragua mit ihren jeweiligen Gruppen ein, gemeinsam auf unserem Festival Karibuni Afrika in Frankfurt am Main zum 500. Jahrestag der berühmten „Entdeckung“ Amerikas zu spielen. Es war auch eine Gelegenheit für uns, uns daran zu erinnern, dass die Völker Afrikas später durch die Sklaverei den gleichen Schmerz und die gleiche Tragödie erlitten haben wie ihre Brüder und Schwestern auf dem Kontinent, der später zu Amerika werden sollte.
Die beiden Musiker hatten unsere Einladung mit Begeisterung angenommen, ohne ein Honorar zu verlangen, als Zeichen der menschlichen Solidarität. Zum Abschluss des Abends sangen Ray und Carlos gemeinsam ein altes kongolesisches Lied: Ata ndele mokili ekobaluka– „Früher oder später wird sich die Welt verändern“!
Ein Lied, das in den 50er Jahren von dem kongolesischen Musiker Adu Elenga komponiert wurde. Eine Art Vorhersage der Ereignisse, die Ende der 50er Jahre im Kongo stattfanden. Dieses Lied ist immer noch gültig, um die Hoffnung der Menschen zu nähren…
Übersetzung: Maria Németh
RAY LEMA, DER NEUE «TONTON » DER AFRIKANISCHEN MUSIK
Text: Christoph Cheynier
Nach dem Tod von Manu Dibango, Tony Allen und Mory Kante ist der kongolesische Pianist und Komponist Ray Lema mit 75 Jahren der neue „tonton“ der modernen afrikanischen Musik. Ein wenig überrascht von dieser neuen Verantwortung, hat es der Mann mit dem Spitznamen „Monsieur Je sais tout“ – „Herr Alleswisser“, geschafft, seine Doppelkultur in eine Stärke zu verwandeln. Ende Mai 2021 wird Ray Lema sein zweites Album im Duo mit dem Jazzpianisten Laurent de Wilde veröffentlichen.
„Der Tonton Manu Dibango ist von uns gegangen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich über mir noch einen ,Alten‘, jetzt sagt jeder zu mir, ,Alter‘. Ich versuche, mich an diese Verantwortung zu gewöhnen“, gesteht mir Ray Lema im Studio seines Hauses in Villiers-sur-Marne, in der Nähe von Paris.
„Er ist in der Tat ‚der Alte‘, möchte aber ganz und gar nicht als der letzte Erbe der afrikanischen Musik in Paris gelten und hochgeachtet werden“, bestätigt der Jazzmusiker Laurent de Wilde, mit dem Ray Lema Ende Mai Wheels panafrican- music.com/en/ray-lema-laurent-de-wilde-wheels, das zweite Album ihres Klavierduos, herausbringt.
„Ich beherrsche die Wissenschaft der afrikanischen Musik und ihrer Rhythmen, aber nicht alles. Die Musik ist kein Gebiet, wo man es jemals ganz schaffen könnte, die Musik ist ein offenes Feld, ich lerne immer noch“, sagt der Mann, der sich selbst noch als Student sieht und von diesem neuen Status „ziemlich überrascht“ ist.
„Dieses Instrument zum Beispiel, da, das ist endlos“, sagt er und zeigt auf sein akustisches Klavier, das er wieder zu zähmen versucht, nachdem er eine Zeit lang Keyboards bevorzugt hat. „Es ist wie beim Erklimmen eines Hügels; oben angekommen zeigt er dir nicht das Ende des Weges, sondern wie weit du noch gehen musst. Und er ist riesig! Ich empfinde Demut vor dieser Landschaft.“
EIN VIELFÄLTIGES LEBENSWERK
Die erste Ausbildung von Ray Lema (raylema.com) war die klassische, gregorianische und Barockschule, die von den Weißen Vätern des Priesterseminars unterrichtet wurde. Er begleitete die Gottesdienste auf der Orgel. Nachdem er doch die Musik als seine Berufung gewählt hatte, entdeckte er als musikalischer Direktor des Nationalballetts von Zaire, das von Präsident Mobutu gegründet wurde, die Rhythmen und Lieder seines riesigen Landes.
„In meiner Zeit in Kin(shasa) und überall, wo ich aufgewachsen bin, gab es immer Musik und Trommeln, also hatte ich all diese Rhythmen in mir und trotzdem war meine erste Begegnung mit Musik die gregorianische Musik“, erklärt Ray Lema. „Seitdem bin ich hin- und hergerissen.“
Aber „Monsieur Je sais tout“, – „Herr Alleswisser“, wie er genannt wurde, verwandelte diese doppelte Kultur in eine Stärke. Er ist derjenige, der die Gitarre als neue Saite seinem Bogen hinzufügte, und zeichnet sich dadurch aus, dass er der Rumba, die damals im Kongo Königsdisziplin war, Rock und Jazz hinzugab.
Im Jahr 1980 brach er auf: erst nach Washington, wo er die Jazzszene kennenlernte, dann nach Brüssel und schließlich nach Paris, wo er 1983 ankam. Im Laufe von etwa dreißig Alben hat Ray Lema ein vielfältiges Werk aufgebaut, in dem er klassische Musik, brasilianische, kubanische, südafrikanische und asiatische Musik, Gnawa, Funk, Jazz, bulgarische Polyphonie, symphonische Musik und Rock mischt…
«L’INTELLO DE LA BANDE »
Der „Intello“ – der Intellektueller unter den afrikanischen Musikern – versucht immer wieder sein Klavier in Richtung Afrika zu lenken und fügt manchmal das Timbre seiner Stimme und den Groove von Lingala hinzu.
„Er ist ein Weltmusiker, den man nicht auf eine Region Afrikas beschränken kann, denn er berührt alles. Und doch bringt er seine „eigene Note und Rhythmen aus seinem Heimatland mit“, stellt der berühmte Rumba-Sänger Sam Mangwana aus der Generation Ray Lemas fest. Er bezeichnet ihn als „einen Künstler mit Talent und Gewicht“.
„Das Interessante an Ray ist, dass er der gleichen Bewegung angehört wie Manu Dibango, nur mit ein wenig breiterer musikalischen Erfahrung. Vor allem ist er an der Wegkreuzung zwischen drei Welten: Afrika, wo er aufgewachsen ist, Europa, wo er lebt, und dem Jazz“, analysiert Jacques Denis, Journalist bei Libération, für den „Ray schon seit einem halben Jahrhundert einer der Paten der modernen afrikanischen Musik ist“.
Ein wegweisendes Stück von Ray Lema ist Transcendance auf der gleichnamigen CD, die 2018 erschien.
raylema.com/concerts/ray-lema-transcendance
« Transcendence ist das Verlangen, Musik zu machen, ohne sich um irgendwelche Kategorien und Etiketten zu kümmern, über die festgelegte Begriffe hinauszugehen, Genres zu transzendieren und all die Liebe zur Musik, zu Künstlern und Musikern aller Art auszudrücken, die mir auf meinem Weg begegnet sind. Ich habe eine Vorliebe für eine ganz spezielle rhythmische Raffinesse, die mit meiner Herkunft zusammenhängt, und wenn ich spiele, gibt sich mein ganzes Wesen einem inneren Tanz hin und taucht in die Geheimnisse der Trance ein.
Die eigenen Ängste, Tabus und das Ego zu transzendieren und sich ungehindert dem Experimentieren der Liebe hinzugeben, lässt den Menschen den Geschmack von Freiheit verspüren.
Wer sich nicht verliebt, wird nie frei sein. Er wird sich nie von familiären Bindungen, von den Regeln der Gesellschaft befreien. Nur wenn man sich verliebt, geht man weg, ohne zu wissen, wohin man geht, ohne zu wissen, was mit einem passieren wird, und man stellt sich nicht einmal die Frage. »
Ray Lema
Ray Lema gilt in seinem Land schon lange als der Intellektuelle unter den Musikern schlechthin, aber er hat sich jetzt auch mit seinem eigenen Volk versöhnt, indem er kürzlich in Kongo Franco Luambo Tribut zollte, einem Gitarristen von der Straße, der mit seinen heißen Rumbas eine ganze Nation begeistert hat. „Wenn ich seine Melodien höre“, sagt er, „bin ich ganz gerührt, in meinem Kopf geht es ab, was überhaupt nicht vernünftig ist“.
Und plötzlich wird der Gelehrte wieder zu einem Kind, das sich mit den harten Kerlen im Stadtviertel nebenan identifiziert.
Übersetzung: Maria Németh
[Red.: „tonton“ oder „der Alte“ oder „der Große“, im afrikanischen Verständnis drückt Respekt gegenüber den Älteren aus (Weisheit und Erfahrung)]