Talking Objects – ein Universum des Wissens

Ausgehend von Objekten aus den Sammlungen europäischer und afrikanischer Museen zielt Talking Objects darauf ab,, ein vielstimmiges Universum des Wissens aufgefächert. Im Dezember 2024 soll ein umfängliches Archiv in Dakar, Nairobi und Berlin online gehen. Foto: Thabo Thindi

Das Experiment

Im Oktober 2019, sagte Mahret Ifeoma Kupka in unserem Gespräch, das wir im Herbst zwei Jahre später in Frankfurt am Main, unweit des Museum Angewandte Kunst führten, erreichte sie eine E-Mail der freien Berliner Kuratorin Isabel Raabe. Sie schlug ihr ein Projekt vor; Mahret Kupka war von der Idee angetan. Beide kuratieren seitdem das künstlerische Forschungsprojekt Talking Objects Lab. Die Idee dahinter ist, das westliche Verständnis von Kunstobjekten und kultureller Aneignung herauszufordern. Mehr noch. Es geht darum, Wissen zu ent-westlichen, vorherrschende Denkmuster aufzulösen und neu zu verknüpfen. Wie kann das gelingen? „Es braucht daher sowohl mehr Raum für Diskussion und Austausch als auch den Willen Europas zuzuhören“, erklären die Kuratorinnen Raabe und Kupka in einem früheren Interview mit dem Kurator Magnus Elias Rosengarten. Dies beinhalte die Bereitschaft, „sein eigens produziertes Wissen beiseitezulegen und in einen Dialog mit dem Globalen Süden zu treten“. Talking Objects Lab, als fortlaufendes künstlerisches Forschungsprojekt, will dieser notwendigen Kehrtwende Raum geben.

Furioser Auftakt war seinerzeit die Konferenz „UNEXPECTED LESSONS – Decolonizing Memory and Knowledge“ im Juni 2021 in der Akademie der Künste in Berlin, zeitgleich im urbanen Raum von Nairobi (organisiert vom Künstler:innenkollektiv The NEST Collective) und im World Wide Web. Die geladenen Gäste, unter anderen der Soziologe und Ökonom Felwine Sarr, die Kunsthistorikerin, Kuratorin und Schriftstellerin Nana Oforiatta Ayim, die Kunsthistoriker*innen El Hadji Malick Ndiaye und Bénédicte Savoy, die Kommunikationswissenschaftlerin Natasha A. Kelly zeigten, wohin die Reise mit den „sprechenden“ Objekten gehen könnte.

Drei Jahre später: Es ist ein verregneter Tag, Anfang Juli 2024 in der Mainmetropole. Unter dem Titel The Cosmologies of Objects fand vom 3. bis zum 6. Juli in der Villa 102 und im Museum Angewandte Kunst ein Think Tank statt. Die KFW-Stiftung hatte in die Villa 102 im Frankfurter Westend eingeladen, heute eine Plattform für Kultur und Dialog der Kreditanstalt, die gleich nebenan residiert. Das Kuratorinnen-Team Kupka und Raabe eröffneten anlässlich des zweiten Think Tanks, den sie nach Dakar und vor Nairobi und zwischenzeitlich in Berlin organisieren hatten, feierlich die Ausstellung The Cosmologies of Objects. Gezeigt wurden großformatige, raumgreifende Arbeiten von Elise Fitte-Duval, Karwitha Kirimi und Adam Yawe. Die gezeigten multiperspektivische Annäherungen an einzelne Objekte der Sammlung des Musée Theodor Monod in Dakar hatte Malick Ndiaye, Kunsthistoriker und dortigen Museumsleiter ermöglicht. Die Arbeiten deuten eine Idee davon an, wie das Sprechen über und von Objekten aus alter Zeit eine Inspiration für neue Narrative sein kann.

Ein performatives Gespräch mit Objekten aus der Sammlung des Museums Angewandte Kunst, moderiert von Aisha Camara. Foto: Alexander Paul Englert

Frau Kupka, wie kann ein Prozess, den Sie TALKING OBJECTS nennen, in Gang gesetzt werden? Wie können die vielen tausend Objekte, die in den Museen der Europäer in düsteren Kellern verstummt sind, zum Sprechen gebracht werden? Wer hat das Wissen und findet den Zugang, um über ihre Herkunftsgeschichte Auskunft zu geben?

Mahret Ifeoma Kupka: Die Objekte aus Afrika, die nach Europa gelangten, tragen viel mehr Geschichten in sich als die eine Geschichte darüber, wo sie ursprünglich herkamen. Wenn man diese Objekte zu lesen versteht, so erzählen sie von ihrer Herkunft aber auch von ihrer Reise, ihrer Ankunft und den Umständen, unter denen sie hier ausgestellt wurden oder in den Depots der Museen unsichtbar geworden sind. Insofern ist es wichtig, die Geschichten zu finden, die von der Herkunft erzählen, aber auch von dem, was danach passierte, und dieses Wissen haben wir hier in Europa. Ich halte es für problematisch, sich zu sehr auf die Herkunftsgeschichten zu fixieren. Vielleicht ist die Geschichte eines Objektes längst verloren. Zudem ist eine heute erzählte Geschichte immer auch eine Erfindung von Vergangenheit. Viel interessanter ist doch die Frage, welche Möglichkeiten wir heute haben, Bedeutungszusammenhänge wiederzufinden und neu zu schaffen.

Ist das ein konkreter Ansatz, den Sie beide mit TALKING OBJECTS LAB verfolgen?

In jedem Fall. Es geht uns gar nicht so sehr um reale Objekte, sondern vielmehr um das, wofür sie standen und heute stehen, bzw. stehen könnten oder auch gestanden haben könnten, wären sie nicht geraubt worden. Insofern ist das „Talking“, also das Sprechen für uns wichtiger als das Objekt selbst, wobei es natürlich nicht klar voneinander zu trennen ist. In europäischen Museen erzählen die Dinge zuvorderst ihre koloniale Geschichte, das heißt gewaltvolle Geschichten von Raub und Entwurzelung. Man könnte doch versuchen, sich auf folgendes Gedankenspiel einzulassen. Wenn man sich vorstellt, all diese geraubten Objekte, die wohl neunzig Prozent des kulturellen Erbes des afrikanischen Kontinents ausmachen, wären dortgeblieben. Was wäre dann gewesen? Ich kann diese Frage nicht beantworten, aber wir müssen begreifen, dass diese Lücke, die die Objekte hinterlassen haben, einfach eine Tatsache ist, die wiederum auch Teil ihrer Geschichte ist.

Wie können die Kulturgüter, die sich im Besitz von Institutionen im Globalen Norden befinden, für die heutigen Gesellschaften zum Beispiel in Kenia zugänglich gemacht werden?

Diese Frage stellen wir uns so direkt mit TALKING OBJECTS LAB nicht. Allerdings greifen unsere Überlegungen mit denen anderer Projekte, wie beispielsweise dem International Inventories Programme, welches sich genau dieser Frage widmet, ineinander. Das vom Goethe Institut geförderte Projekt hat 18.000 kenianische Kulturgüter inventarisiert, die sich als Sammlungsobjekte in deutschen Museen befinden. Das Museum für Weltkulturen in Frankfurt zeigte daraufhin die Ausstellung Invisible Inventories. Zur Kritik kenianischer Sammlungen in westlichen Museen. Ich habe mir die Ausstellung, die sich auf vielseitige Weise mit dem Verlust der einzelnen Objekte, die auf dieser Datenbank aufgeführt sind, schon in Köln im Rautenstrauch-Joest-Museum angeschaut. Die Künstler*innenkollektive The NEST Collective, SHIFT und zuletzt auch African Digital Heritage sind aktive Mitglieder dieses Programmes. Ich hatte The NEST Collective bei einem Forschungsaufenthalt in Kenia und Tansania kennengelernt und vorgeschlagen, sie in unser Konzept mit einzubeziehen. Wir nehmen also den Faden auf und denken die Forschungsergebnisse gemeinsam weiter. Wie beispielsweise in Dakar zusammen mit unserem Projektpartner dort – dem Musée Théodore Monod, vertreten durch El Hadji Malick Ndiaye. Mit Caroline Gueye und Viyé Diba brachten wir zwei Künstler*innen zusammen, die in Auseinandersetzung mit Objekten der Sammlung ein neues Objekt, samt Reflektion darüber entwickelten. Das ist genau das, was wir wollen. Den Raum schaffen, in dem etwas Neues entstehen kann, in dem sich neue Geschichten erzählen lassen, aus den Geschichten der existierenden Objekte heraus.

Gab es etwas, was Sie Ihnen in der Erinnerungsarbeit bei THE NEST Collective besonders aufgefallen ist im Hinblick auf die Diskussion über die Zukunft der Objekte?

Ich fand es bemerkenswert, dass sie einen ökonomischen Aspekt in den Blick nehmen, den kaum jemand bislang in der Debatte erwähnt hat. Zugespitzt gefragt: Wem kommen eigentlich die Einkünfte zugute, die mit dem Eintritt in Ausstellungen erzielt werden? Einzelne Objekte werden zu Aushängeschildern von Sammlungen. Insofern wird die Ausbeutung, der Raub noch immer weitergeführt. Das ist doch ein interessanter Gedanke. Der Raub ist noch immer im Prozess.

Lassen Sie uns auf den Begriff Identität zu sprechen kommen. Der Kurator Tuma Muteba Luntumbue meinte letztlich zu mir, der Begriff sei eine Falle, wenn er im Sinne von Einzigartigkeit oder Authentizität gedeutet wird. Sie setzten sich in theoretischen Schriften mit Identitätskonzepten auseinander. Wie wichtig ist Ihnen der Begriff „Schwarze Identität“?

Absolut wichtig und absolut unwichtig zugleich. Zudem kommt es auch immer darauf an, worüber gerade gesprochen wird, ob es in einem bestimmten Kontext wichtig ist, auf eine Markierung zu verweisen oder eben nicht. „Schwarz“, das ist ganz wichtig, ist ja keine Erfindung von als Schwarz markierten Personen, sondern Resultat eines auf vermeintlich rassischen Unterschieden basierenden historisch gewachseneren Systems, von – wenn man in den Kategorien sprechen will – Weißen erfunden. Insofern existiert die Kategorie biologisch zwar nicht, kulturell aber sehr wohl und daher kann es auch so etwas wie eine „Schwarze Identität“ geben, wobei hier auch zwischen Zuschreibung und Selbstaneignung unterschieden werden muss. In Debatten um Identität gerät meiner Ansicht nach immer vieles durcheinander. Bei Politik, die vermeintlich auf Identität basiert, geht es vor allem darum, strukturelle Ausschlussmechanismen sichtbar zu machen und damit auch überwindbar. Das Ziel ist eine inklusive Gesellschaft, in der alle gleichwertig miteinander verschieden sein können. Dazu muss aber erstmal hingeschaut werden, wer überhaupt alles da ist. Es muss einander zugehört werden und es muss Räume geben, in denen von Gewalterfahrungen gesprochen werden kann, aber auch solche, in denen mögliche Zukünfte entwickelt werden können. Zugleich finde ich es, im Anschluss an viele Denker*innen vor mir, sehr wichtig, über „Schwarz“ als all das nachzudenken, was „Weiß“ nicht ist. „Schwarz“ ist dabei nicht einfach das Gegenteil von „Weiß“, sondern wird zum GANZ Anderen, das sich einer Kategorisierungslogik komplett entzieht.

Sie haben sich für eine Residency in Nigeria im Rahmen des TURN2 Programms der Kulturstiftung des Bundes beworben…

Ja. Meine Residency fand kurz nach der Rückgabe eines Konvoluts an geraubten Benin Bronzen an Nigeria durch die deutsche Regierung statt. Mich interessierte, wie diese Rückgabe in Nigeria wahrgenommen wird. Die wohl wichtigste, zugleich aber kaum überraschende Erkenntnis war, dass die Meinungen dazu in Nigeria ebenso vielfältig sind wie in Deutschland. Abschluss meiner Residency war eine UNEXPECTED LESSON zum Thema „Decolonizing Restitution“ zu der ich diverse Akteur*innen einlud. Es trafen Vertreter*innen des Britisch Council in Nigeria auf Künstler*innen und Aktivist*innen vor Ort. Die Veranstaltung ist auch auf unserer Website nachzusehen.

Heilung ist ein Thema, das Sie interessiert?

Ja, und das ist auch ein wichtiger Aspekt in unserem Projekt TALKING OBJECTS LAB, um den großen Bogen zu schließen. Natürlich geht es um die Rückgabe von Objekten, aber es geht auch – fast schon viel wichtiger – um Heilung. Denn allein mit der Rückgabe ist es längst nicht getan.

Darum geht es nicht?

Nein. Es geht auch nicht so sehr darum, Schuld zu diskutieren. Dieser koloniale Raubzug ist geschehen: Gemeinschaften und Orten wurde eine tiefe Verletzung zugefügt, die bis heute wirkt. Ein Objekt wurde von seinem ursprünglichen Ort – und ich meine das auch metaphorisch – entfernt, und dort ist eine Lücke geblieben, eine offene Wunde, die wuchert und immer daran erinnert, was einmal da gewesen und jetzt verloren ist. Wie werden wird jetzt mit dieser Lücke umgehen?


Objekte aus der Sammlung des Musée Théodore Monod in Dakar, Foto: Touré Behan

Healing“ (Heilung) ist in den letzten Jahren zu einem häufig verwendeten Schlagwort in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten geworden. Was antworten Sie darauf?

Oft wird nicht richtig verstanden, was mit “Heilung” gemeint ist. Zudem diskutieren wir hier über Wunden, die nicht mehr heilen können. Die mögliche Entwicklung künftiger Generationen wurde systematisch und unwiederbringbar mit dem Kolonialismus zerstört. Was ist das also für eine Art von Heilung, über die wir hier sprechen? Jedenfalls keine, die sich mit einer Rückgabe einst gestohlener Objekte erledigt hat. Uns geht es um einen eher ganzheitlichen Ansatz, der auch Heilung neu denkt. Heil ist, was ganz ist, was vollständig ist und das steht nicht im Widerspruch mit Wunden und Narben. Diese müssen als Tatsachen mit integriert werden. Der Begriff De-kolonisierung klingt zunächst vielleicht so, als würde etwas weggenommen werden, dekonstruiert, abgebaut, dabei geht es bei dem Prozess eigentlich um eine Vollständigmachung, das heißt es werden die fehlenden, verschwiegenen, gewaltsam ausgegrenzten Teile ins Ganze integriert.

Mehr: Das ganze Gespräch ist bei Textor veröffentlicht.